2. Wie realistisch schätzen sich die Vikings selbst ein?
Die Vikings haben in dieser Saison einen Rekord für die meisten Siege in One-Score-Games aufgestellt. Sie waren das erste Team, das bei 13 Siegen ein negatives Point-Differential hatte. Dieses Team war in der Regular Season kurios in jeder Hinsicht, ein Team, bei dem einen, unabhängig vom Gegner, ein knapper Sieg genauso wenig überrascht wie eine hohe Niederlage - warum sollte es da in den Playoffs anders sein?
Warum sollte beispielsweise die Defense, die über den absoluten Großteil der Saison riesige Probleme hatte, einen Zugriff zu finden, mal die Aggressivität hochzuschrauben, mal eine 180-Grad-Drehung im Matchplan hinzulegen - warum sollte diese Defense plötzlich in den Playoffs ein anderes Gesicht zeigen?
Die Vikings spielten es merklich anders als im Regular-Season-Spiel gegen die Giants: Sie waren wieder mehr auf Sicherheit bedacht, saßen viel in Zone Coverages und blitzten wenig - doch die Giants konnten die Coverage-Zones immer wieder erfolgreich attackieren, regelmäßig waren Räume offen, und wenn nicht, dann war Daniel Jones als Scrambler mehrfach die Antwort.
Die Vikings verlieren ihr erstes One-Score-Game
Minnesota wirkte so häufig in dieser Saison defensiv zu passiv, zu soft in seinen Coverages, und dieser Eindruck bestätigte sich gegen die Giants - was noch, in diesem Fall von meiner Seite, zu soft ausgedrückt wirkt angesichts einer enttäuschenden Vorstellung einer Defense, die eigentlich die Playmaker-Qualität auf allen drei Leveln hat, um eben auch anders aufzutreten.
All das war umso auffälliger, weil eben auch defensive Big Plays möglich waren, als die Vikings im Laufe der zweiten Hälfte einige Blitzes brachten.
Einmal wurden sie dafür dann auch in der Red Zone zum Touchdown verbrannt, aber das gab ihnen zumindest defensiv die Chance auf Big Plays, als längst klar war, dass Minnesotas regulären Coverages und Fronts hier nicht funktionieren würden. Diese Flexibilität hätte ich mir auch schon früher gewünscht, statt erneut und erneut offene Receiver oder offene Runs zuzulassen.
Anders war vor allem das Endresultat. Nach dem historischen 11-0-Run in One-Score-Games während der Regular Season verlor Minnesota zum ersten Mal in dieser Saison ein enges Spiel. Und auch wenn das Ergebnis in diesem Sinne nicht zur bisherigen Vikings-Saison "passte", so passte es eigentlich doch ganz genau.
"Wie gut sind die Vikings wirklich?"
Denn die ganze Saison über war das ein Diskussionspunkt rund um dieses Team, mit der Kernfrage: Wie gut sind die Vikings wirklich?
Diese Diskussionen sind umso kontroverser, wenn der Record einen Titelkandidaten andeutet, mehrere Spiele - deutliche Niederlagen einerseits, haarscharfe Siege andererseits - ein ganz anderes Bild zeichnen.
Ich sehe die Realität so: Die 2022er Vikings waren ein Team im oberen Mittelfeld, das in einzelnen Ausreißern, maßgeblich dank Justin Jefferson, über seiner Gewichtsklasse boxen konnte, aber das nie die Konstanz an den Tag legte, die es braucht, um wirklich ganz oben mitzuspielen.
Daran hatte die Defense maßgeblich ihren Anteil, offensiv fiel mir vor allem auf, dass Minnesota nie irgendeine Identität im Run Game fand. Selbst als man gegen die Giants früh im Spiel den Ball gut laufen konnte, gingen die Vikings in Short-Yardage-Situationen mehrfach weg vom Run Game.
Und Cousins ist eben Cousins. Cousins ist in der Lage, ein sehr gutes Spiel abzuliefern; wie am Sonntag gegen die Giants, als er extrem viel unter Druck stand, und das gut managte. Aber dann hat er diese Aussetzer, die immer verhindern werden, dass ihn irgendjemand in die Quarterback-Elite zählt. Der Checkdown zu einem gecoverten Tight End bei Fourth Down, bei dem es um alles ging, war auch mit Druck vor sich so ein bitterer Moment.
Wie realistisch sehen die Vikings ihre eigene Saison?
Ein Team, dessen zentrale Identität darin lag, enge Spiele zu gewinnen, kann dann auch mal ein enges Spiel verlieren, das sollte niemanden wirklich überraschen. Spannender werden jetzt die nächsten Wochen und Monate. Denn jetzt werden wir wirklich etwas über dieses Team lernen - die kritische Frage nämlich, inwieweit die Vikings-Verantwortlichen ihr Team selbst realistisch einschätzen können.
Es wäre leicht, nach einer 13-Siege-Saison und einem knappen Aus in der Wildcard Round auf dieses Team zu schauen und sich selbst einzureden, dass man ein, zwei Moves noch machen muss, um im nächsten Jahr ein Titelanwärter zu sein. Gerade in der NFC, die nicht allzu viele Top-Teams zu bieten hat.
Und ich denke, niemand wird die Vikings auffordern, jetzt den gesamten Kader zu entkernen und neu aufzustellen. Aber was ist mit dem Posten des Defensive Coordinators? Was ist mit der generell alternden Defense? Was ist mit Spielern wie Adam Thielen?
Es gibt hier Nuancen in der Betrachtung. Man kann die nächste Entwicklungsstufe dieses Kaders einleiten, auch ohne einen kompletten Rebuild anzuzetteln. Man könnte auf der anderen Seite auch versuchen, mit ein, zwei großen Signings oder Trades einen Titelanwärter zu basteln.
Wie die noch - in jeder Hinsicht - junge Vikings-Führung diese Saison einschätzt, und welche Schlüsse sie aus dieser Saison für die jetzt anstehenden Weichenstellungen für die kurz- und langfristige Zukunft zieht, das wird uns sehr viel darüber verraten, ob die Vikings in guten Händen sind.