Zwölf Sekunden am Sonntagnachmittag an der Anfield Road in Liverpool. Nur zwölf Sekunden. Aber zwölf Sekunden, die reichten, um die letzte Bestätigung dafür zu erbringen, was Liverpool im Moment ist: die begeisterndste, die rasanteste und die zielstrebigste Mannschaft der Premier League. In der ersten dieser zwölf Sekunden jedenfalls führte Arsenal einen Eckball aus. In der zwölften und somit letzten Sekunde schob Mohamed Salah den Ball fast 100 Meter entfernt von der Eckfahne ins Tor von Arsenal.
"Genau das trainieren wir die ganze Woche über", erklärte Mittelfeldspieler Georginio Wijnaldum nach dem Abpfiff: "Gegnerische Standardsituationen verteidigen und daraus Chancen kreieren." Balleroberung. Vertikales Spiel nach vorne. Tor. "Wenn man länger zusammenarbeitet, können sich die Spieler in verschiedenen Situationen auf bestimmte Bewegungen ihrer Kollegen auf dem Platz verlassen", sagt Trainer Jürgen Klopp, der seiner Mannschaft seit mittlerweile knapp zwei Jahre seine so prägnante Spielphilosophie vermittelt.
Die Mannschaft saugte sie auf, nahm sie an und zelebriert sie mittlerweile nahe der Perfektion. Vor allem in den vergangenen beiden Spielen, im Rückspiel der Champions-League-Playoffs gegen Hoffenheim und im Premier-League-Spiel gegen Arsenal.
Liverpool, der Wirbelsturm
"Der Beginn des Spiels war wie ein Gewittersturm", sagte Klopp über den Auftakt dieser atemberaubenden 180 Minuten Fußball. Letztlich gewann Liverpool 4:2 gegen Hoffenheim und qualifizierte sich somit für die Champions League. Und Klopp hatte vier Tage Zeit, intensiv über die Besetzung seiner Startelf gegen Arsenal, über mögliche Rotationen im Offensivbereich, nachzudenken. Aber all seine Spieler hätten im Training trotz der kräftezehrenden Spielweise so positiv und euphorisch gewirkt, also beschloss Klopp und sagte es danach auch: "Come on, let's try again!"
Rotiert hat Klopp nur in der Defensive. Rechts hinten begann Talent Joe Gomez statt Talent Trent Alexander-Arnold (der nominelle Rechtsverteidiger Nathaniel Clyne ist verletzt), im Tor Loris Karius statt des nominellen Stammkeepers Simon Mignolet, der geschont wurde und laut Klopp beim kommenden Spiel "zu 100 Prozent wieder beginnen wird". Der Rest der im 4-3-3 formierten Startelf jedenfalls blieb unverändert.
Unverändert blieb auch die Vorgabe von Klopp. "Wir wollten von der ersten Sekunde an all unser Verlangen und unsere Gier zeigen", sagte er nach dem 4:0-Sieg gegen Arsenal, in dem er seine Mannschaft von der ersten Sekunde an all ihr Verlangen und ihre Gier zeigen sah. Wie gegen Hoffenheim. Wieder ein Gewittersturm. "Unsere Leistung war perfekt", resümierte Klopp: "Ich habe heute elf herausragend gute individuelle Vorstellungen gesehen."
Stabile Defensive, Erwachsenen-Fußballer Gomez
Von den Verteidigern etwa, die gegen Arsenal keinen einzigen Schuss aufs Tor zuließen. "Physisch stark und wirklich gut organisiert", lobte Klopp die Defensive um die beiden Innenverteidiger Joel Matip und Dejan Lovren. In der vergangenen Saison hatte Liverpool noch 42 Gegentore kassiert, am zweitmeisten der sechs bestplatzierten Vereine. Und zum Auftakt dieser Spielzeit beim FC Watford drei. "Unsere natürliche Ausrichtung ist offensiv", weiß Tormann Mignolet, "aber wir müssen sie mit einem guten Defensivverhalten und Aggressivität vermischen."
Gegen Arsenal funktionierte das. Die Mischung bescherte Ballgewinne, die ihrerseits Tore bescherten. Wie beim Zwölf-Sekunden-Konter zum 3:0 und auch wie beim 16-Sekunden-Konter zum 2:0.
Gomez eroberte da den Ball im eigenen Strafraum.
"Willkommen im Erwachsenen-Fußball", lobte Klopp den 20-Jährigen nach dem Spiel: "Starke Tackles, physische Präsenz."
Gomez passte nach dem Ballgewinn zu Wijnaldum, der dann Emre Can anspielte. Drei Sekunden nach dem Ballgewinn.
Regisseur Can, Neuzugang Salah
Can agiert als verkappter Regisseur vor Kapitän und Sechser Jordan Henderson, versetzt neben Wijnaldum und hinter Roberto Firmino, der sich gerne zurückfallen lässt. Can stößt dann nach vorne und schließt ab wie gegen Hoffenheim, als er zwei Treffer erzielte. Oder spielt hervorragende Steil- oder Schnittstellenpässe. "Das erwartet der Trainer von uns Mittelfeldspielern und ich versuche das umzusetzen", erklärt Can: "In dieser Saison mache ich es öfter als in der vergangenen und es klappt gut."
Can bekam also den Ball von Wijnaldum, lief noch einige Meter weiter und passte an der Mittellinie zu Roberto Firmino. Sechs Sekunden nach dem Ballgewinn.
Der Brasilianer ist womöglich der Schlüsselspieler im System von Liverpool. Als zentraler Stürmer agiert er nominell, aber so spielt er nicht. Firmino ist eine klassische falsche Neun, seit diesem Sommer steht auf seinem Rücken aber eine echte 9. Neuzugang Salah wollte unbedingt Firminos Nummer 11, also gab er sie ihm eben.
Salah, für 42 Millionen Euro von der AS Rom gekommen, ist der einzige-Sommer Neuzugang in der aktuellen Startelf von Liverpool. Er übernahm die freigewordene Stelle des aktuell streikenden (oder kränkelnden, je nach Betrachtungsweise) Philippe Coutinho.
"Mo ist nicht daran gewöhnt so zu spielen wie wir", sagt Klopp. Bisher hat sich der Ägypter aber hervorragend eingefügt, bringt er doch die wichtigste Qualifikation für einen Stammplatz in Liverpools Offensive mit: Geschwindigkeit. Während er bei seinem Ex-Klub als zweiter Stürmer agierte, spielt er bei Liverpool auf dem rechten Flügel. Und verteidigt auf dem rechten Flügel. "Er hat bei uns bisher schon 500 Prozent mehr nach hinten gearbeitet, als er das letzte Saison gemacht hat", lobt Klopp.
Jäger Firmino, Torjäger Mane
Salahs ideales Vorbild in dieser Hinsicht spielt neben ihm und schenkte ihm neulich seine Rückennummer: Firmino. Der Brasilianer arbeitet so umtriebig nach hinten mit, dass sein Aktionsradius-Mittelpunkt gegen Arsenal horizontal auf einer Höhe mit dem von Mittelfeldspieler Can war. Klopp nannte Firmino mal "Torjäger, Kämpfer und Verteidiger in einem".
Bis zur A-Jugend spielte Firmino oftmals in der Defensive und er kann sich offenbar gut daran erinnern, was er damals gelernt hat. "Er jagt seine Gegenspieler über den ganzen Platz, sie können ihn nicht loswerden", lobte Klopp nach dem Sieg gegen Hoffenheim. Sowohl in diesem Spiel als auch gegen Arsenal bestritt Firmino die meisten Zweikämpfe aller Liverpool-Spieler. Gleichzeitig legte er jeweils auch die meisten Torschüsse auf.
So etwa nach dem Zuspiel von Can. Mit dem Rücken zum Tor nahm Firmino den Ball an, drehte sich und schickte Sadio Mane in die Tiefe. Neun Sekunden nach dem Ballgewinn.
Mit seinem Tempo lief Mane in den Strafraum, mit seiner Listigkeit verlud er Gegenspieler Rob Holding, mit seiner Abschlusspräzision schoss er den Ball ins Tor. 16 Sekunden nach dem Ballgewinn.
In allen drei Premier-League-Spielen der Saison hat Mane nun getroffen. "Er passt in den richtigen Momenten, dribbelt in den richtigen Momenten und versprüht immer Torgefahr", sagt Klopp.
Joker Sturridge, Tiefe im Kader
Arbeiten sollte Mane dagegen noch an seinem englischen Wortschatz. "Ich kann mein Gefühl nicht erklären, weil ich das entsprechende Wort dafür nicht kenne", sagte Mane nach dem Spiel über das, was er während den Beifallsstürmen der Fans bei seiner Auswechslung Mitte der zweiten Halbzeit empfand.
Mane jedenfalls verließ den Platz, für ihn kam Daniel Sturridge ins Spiel. Mit Divock Origi, Danny Ings und Dominic Solanke hat Liverpool darüber hinaus aktuell noch drei weitere hervorragende Angreifer im Kader, mit Adam Lallana und James Milner noch zwei hervorragende Mittelfeldspieler. Und dann ist da noch Coutinho, dessen Zukunft weiter unklar ist. "Wir verfügen über eine gute Kader-Tiefe", fasst Can zusammen.
Neu auf den Platz kam gegen Arsenal aber Sturridge und keine drei Minuten später traf er zum 4:0. Nach einem 18-Sekunden-Konter. Can hatte den Ball im eigenen Strafraum erobert und über Firmino, Gomez, nochmal Firmino, nochmal Can und Salah landete er dann schließlich bei Sturridge. Und von seinem Kopf im Tor.
Mane beobachtete das nach seiner Auswechslung von der Bank aus und überlegte noch, wie er seine Gefühle bei der Auswechslung nachher auf Englisch erklären könnte. Das entsprechende Wort fiel ihm aber bekanntlich nicht mehr ein. Stattdessen stand Mane einfach da und lächelte.