Wie macht man ein Spiel berechenbarer, das wie kein anderes Ballspiel immer noch dem Faktor Zufall unterliegt? Fußball ist ein Fehlerspiel und ein "low scoring game": Es werden vergleichsweise wenige Treffer erzielt.
Jahrzehntelang hat es sich der (deutsche) Profi-Fußball in einer Blase gemütlich gemacht. Der Einfluss aus anderen Sportarten war marginal, Trainerteams bestanden aus einem Chefcoach und seinem Assistenten. Mit der rasanten Entwicklung des Spiels haben endlich auch die Spezialisten Einzug gehalten.
Lars Kornetka ist einer von ihnen. Er ist vor acht Jahren endgültig eingetaucht in die Schattenwelt der geheimnisvollen Parameter, jenseits der üblichen und für die Statik eines Spiels kaum aussagekräftigen Statistiken, die jedes Wochenende zu sehen, hören oder lesen sind.
"Rogers Superauge"
"Peps Superauge" hat ihn der Boulevard mal getauft. Er war auch schon Ralfs Superauge und Huubs Superauge. Momentan ist er Rogers Superauge. Bayer Leverkusen weist Lars Kornetka, 36, als Co-Trainer Analyse aus. Seine Aufgabe ist enorm, er muss den Grundstoff des Fußballs entziffern und für die ausführenden Personen mundgerecht und verständlich aufbereiten. Die eigene Leistung soll so zumindest planbar gemacht werden - wenn schon der Erfolg nicht planbar ist.
Kornetkas Einstieg fiel zusammen mit der Zeit des Sommermärchens. An der Deutschen Sporthochschule Köln war er als Student eingeschrieben, Fachrichtung Sportjournalismus. Über einen Job bei der "ARD" rutschte er ins Blickfeld von Bernhard Peters. Der war damals nicht nur ein überaus erfolgreicher Hockey-Bundestrainer, sondern wäre beinahe Sportdirektor beim DFB geworden.
Der damalige Regionalligist TSG Hoffenheim nahm Peters dann vom Markt und unterstellte ihm den Bereich "Sport und Nachwuchsförderung". Peters und Trainer Ralf Rangnick holten Kornetka ins Boot und ermöglichten dem Quereinsteiger so die Anfänge in einem Bereich, der in Deutschland damals noch ziemliches Neuland war.
Hoffenheim, Schalke, Bayern, Leverkusen
Kornetka hat sich in wenigen Jahren einen guten Namen gemacht im Vereinsfußball. Er folgte seinem Mentor Rangnick 2011 nach Gelsenkirchen und erlag zwei Jahre später dem Lockruf des FC Bayern und Pep Guardiolas.
Vor dem Beginn der laufenden Saison entschied sich Kornetka dann für einen Wechsel zu Bayer 04 und Trainer Roger Schmidt. Es gibt nicht viele Experten, die sich so intensiv mit Guardiolas Arbeit, seinen Vorlieben und Ideen auseinandergesetzt haben - und dies nun für einen anderen Arbeitgeber nutzen könnten. Im Prinzip ist Kornetka ein Insider in den Reihen der anderen.
Am Wochenende treffen in München zwei ziemlich spektakuläre Spielstile aufeinander. Die Bayern dürften auf eine Mannschaft treffen, die sich im Gegensatz zu vielen anderen in der Allianz Arena nicht nur geschlossen in der eigenen Spielhälfte verschanzt, sondern gemäß ihrem neuen Naturell einen anderen Weg wählen wird.
Verknüpfung unzähliger Informationen
Das große Ganze aufzudröseln, es auseinanderzuschrauben und dann zu Versatzstücken wieder zusammenzubauen, ist Kornetkas Aufgabe. Zehntausende Spielsequenzen und vermutlich einige Terrabyte an Daten liegen auf seinen Servern.
Fast 50 Kameras in den Stadien erfassen die unzähligen Spielaktionen, die dann gebündelt auf den Festplatten der Rechner landen. Es ist eine unvorstellbare Rohmasse an Informationen, die Kornetkas Team sichten, einordnen, eindampfen und miteinander verknüpfen muss.
Die Technik liefert die Daten, die entsprechenden Erkenntnisse und Zusammenhänge bleiben weiter den ausführenden Menschen überlassen. Gemessen werden längst nicht mehr nur die Aktionen während der Spiele. Auch Trainingseinheiten werden überwacht und liefern wichtige Informationen. Dazu kommt die dauerhafte, individuelle Inspektion der Spieler im körperlichen Bereich. Was messbar ist, wird gemessen.
Leistungssteigerungen im kognitiven Bereich
Für die großen Zwischenräume gibt es Leute wie Kornetka - oder dessen zweiten Mentor Daniel Memmert. Der ist Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln und befasst sich fast 15 Jahren mit der Frage, wo noch welche Potenziale im Profi-Fußball schlummern.
"Es kommt heute vor allem auf den Kopf an, aufs Hirn. Körperlich fit sind die Mannschaften in der Regel sowieso, da gibt es nur noch wenig Luft nach oben", sagte Memmert also. Vielmehr vermutet er ein großes Reservat an Entwicklungsmöglichkeiten im kognitiven Bereich. Damit sind so genannte Soft Skills des Fußballs gemeint: Antizipation, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Spielintelligenz oder Kreativität.
Aus allen Daten ergeben sich in einem zweidimensionalen Raster Bewegungsmuster, ähnlich einer Heatmap. Auch kleine Richtungsänderungen des Spielers sind so zu erkennen. Hat er ordentlich aufgedreht vor der Ballannahme? Hat er den Gegenspieler wie gefordert auf den schwächeren Fuß gezwungen, ihn richtig oder falsch gelenkt? Hat er die geforderten "Handlungsprovokationen" beherzigt, um den Gegner aus dem Konzept zu bringen?
Aus diesem Mosaik aus Wahrscheinlichkeitsberechnungen - und mehr ist die Wissenschaft bei aller Detailversessenheit auch heute nicht - bilden Experten wie Memmert oder Kornetka dann ein Muster ab.
Algorithmen und Emotionen
Diese Gebrauchsanweisungen übernehmen manchmal noch die extra dafür entwickelten Programme. "Früher dauerte die Auswertung acht Stunden, heute eine Minute", erinnert sich Memmert, der den technischen Fortschritt miterlebt hat. In seiner Abteilung wurden lernfähige Programme entwickelt, sogenannte neuronale Netze. "Sie bestehen aus intelligenten Algorithmen, die in der Lage sind, wiederkehrende Muster zu erkennen."
Die Zusammensetzung dieser Muster, zugeschnitten auf mannschafts-, gruppen- und individualtaktische Anforderungen an die Spieler ergibt dann im besten Fall ein Dossier, das Spiele gewinnen kann. Zumindest in der Theorie.
"Wir können immer noch keine Tore schießen. Aber diese zwei, drei Prozent Informationsvorsprung können auf dem Niveau entscheidend sein", sagt Professor Jürgen Buschmann, der mit seinem Team an der SpoHo Köln seit Jahren für die Gegneranalysen der Nationalmannschaft zuständig ist.
Lars Kornetka bereitet sich seit Montag intensiv auf seinen ehemaligen Chef und dessen Mannschaft vor. Die Analyse des Derbys gegen den 1. FC Köln fließt da sicherlich auch noch mit ein, die hat Kornetka am Samstag noch seinem Trainer Roger Schmidt überreicht.
Und für kommenden Samstag hat der Analytiker Kornetka noch eine unschlagbare Waffe in der Hinterhand: Er kennt seine Gegenüber, er kennt die Abläufe bei den Bayern, hat sich oft genug mit Guardiola und dessen Helfern ausgetauscht. Er kann für die Partie beim Rekordmeister auch Zusammenhänge auf der emotionalen Ebene konstruieren. Das kann eine Maschine nicht.
Der Kader von Bayer Leverkusen