Es war der traurigste Tag des Jahres für den Madridismo. Spaniens Fußballwelt hielt inne, zu den Klängen von Frank Sinatras "My Way". Florentino Perez vergoss bittere Tränen, als die Video-Widmung des Klubs auf einer Leinwand gezeigt wurde.
Zuvor hatte er noch selbst eine Rede gehalten. Er sprach von einem "Tag der absoluten Trauer für Real Madrid und die ganze Welt. Der größte Spieler der Vereinsgeschichte Madrids und der Beste aller Zeiten hat uns heute verlassen. Doch seine Legende wird für immer weiterleben."
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Die Rede war von Alfredo Di Stefano, der am 7. Juli 2014 einem Herzinfarkt erlag. Wie kein anderer hatte er den Verein geprägt, ihm Ruhm und Glanz beschert. Er war es, der in den 50ern das unvergleichbare "weiße Ballett" angeführt hatte. Ferenc Puskas, Jose Santamaria, Francisco Gento - ein Sammelsurium an Ausnahmekönnern. Doch über allen thronte Di Stefano.
"Tore schießen", sagte er einst, "ist wie Liebe machen. Alle Welt weiß, wie das geht. Aber keiner macht es so wie ich." Auf seine einzigartige Weise wurde er acht Mal Torschützenkönig. Mit ihm holte Real acht Meistertitel und gewann fünf Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister. Später wurde er Ehrenpräsident, begutachtete bis ins hohe Alter seine Königlichen im Stadion. Das letzte Spiel, das Di Stefano sah, war das CL-Finale 2014. Der Gewinn von La Decima. Es war der größte Tag des Jahres für den Madridismo.
Ein zwölfjähriges Trauma
Zwölf Jahre lang hat es gedauert. Zwölf lange Jahre voller prominenter Transfers und Ankündigungen, voller gescheiterter Stars und Rückschläge. Vom brasilianischen bis zum portugiesischen Ronaldo, von Beckham bis Bale traten seit 2002 alle großen Neuverpflichtungen mit dem gleichen Ziel an: Mit Real Madrid den zehnten CL-Titel zu holen.
Zwischen den Triumphen von 2002 und 2014 liegen zehn verschiedene Trainer, etwa 1,2 Milliarden Euro an Ablösesummen für Spielertransfers und viele nicht eingelöste Versprechen. Zwischen 2005 und 2010 kam Real erst gar nicht mehr über das Achtelfinale hinaus. Das regelmäßige Scheitern in der Champions League schien zum Trauma zu werden.
Doch am 24. Mai 2014 wurde dieses und viele weitere Traumata mit einem Mal besiegt. All die dunklen Geister der letzten Jahre waren plötzlich vergessen.
"Im letzten Jahrzehnt hatte keiner unter den reichsten Klubs des Planeten auf internationaler Ebene so wenig gewonnen wie Real Madrid", schrieb die "Gazzetta dello Sport" am Folgetag treffend. "Carlo Ancelotti hat auf den Trümmern einer gespaltenen Mannschaft Wiederaufbauarbeit geleistet. Jetzt ist die Barca-Phase zu Ende."
Sieg über die Vergangenheit
Ob das Ende der Barcelona-Ära von kurzer oder längerer Dauer ist, bleibt dahingestellt. Doch mit La Decima hat Real dem Erzfeind nach langer Zeit im Wartestand wieder den Rang abgelaufen. Jahrelang mussten die Königlichen zusehen, wie eine Mischung aus Nachwuchsspielern und Top-Stars in Barcelona das Kombinationsspiel perfektionierte, die Fußball-Welt verzückte und von Titel zu Titel eilte.
Für Real sprang mal eine Meisterschaft heraus, mal ein Pokalsieg. Doch nichts davon konnte den Madridismo für die Unterlegenheit gegenüber Barcelona, die zwei krachenden Clasico-Pleiten 2009 (2:6) und 2010 (0:5) und das Warten auf La Decima entschädigen.
Doch am schlimmsten wog die breite Bewunderung, die Pep Guardiolas Barcelona ob der ästhetischen Spielweise zu Teil wurde. Eine Bewunderung, die Real seit dem letzten CL-Triumph in dieser Dimension verwehrt blieb. Der Ruf einer willkürlich zusammengewürfelten Star-Truppe, deren Protagonisten individuelle Allüren über den Erfolg der Mannschaft stellten, war allgegenwärtig. Ihre Erfolglosigkeit in der Königsklasse ebenfalls.
Wachablösung auf mehreren Ebenen
2014 stellt nun womöglich eine Zeitenwende, mindestens jedoch eine Zäsur dar - und das in vielerlei Hinsicht. Bis auf den Supercup zu Saisonbeginn wurde erstmals seit 2007/2008 kein Titel an Barca vergeben. Im Copa-Finale glänzten nicht Messi oder Neymar, stattdessen gehörte Gareth Bale mit einem legendären Sprint der Moment des Abends.
Auch in der neuen Saison walzt Real durch alle Wettbewerbe. In der Liga steht man drei Punkte vor Barca an der Spitze, in der Champions League gaben die Madrilenen nicht einen einzigen Punkt ab. Und mit dem jüngsten Sieg über Ludogorets Rasgrad kassierte Real zugleich einen spektakulären Rekord: Wettbewerbsübergreifend 19 Siege in Folge schaffte zuvor noch kein spanisches Team. Bis dato hatte die Bestmarke - natürlich - der FC Barcelona inne.
Mit dem (vorübergehenden) Ende der katalanischen Vorherrschaft gab es auch auf individueller Ebene eine Zäsur: Nachdem Messi viermal hintereinander zum Weltfußballer gewählt worden war, wurde Anfang des Jahres erstmals Cristiano Ronaldo als Real-Spieler mit dem Ballon d'Or ausgezeichnet. Die Wachablösung auf Klub-Ebene fand darin schon früh ihre Personifizierung.
Ancelottis perfekte Symbiose
Doch neben der schillernden Medienfigur Ronaldo ist Real Madrids glorreiches Jahr 2014 vor allem mit einer bestimmten Person verbunden: Carlo Ancelotti. Der Italiener vollbrachte das, woran seine Vorgänger von Queiroz bis Mourinho gescheitert waren.
Er formte in nur einer Saison aus dem Gemenge von individuellen Ballkünstlern und Hochglanz-Marketingprodukten eine Fußballmannschaft, die den so dringend benötigten Spagat zwischen Spektakel und Erfolgsorientiertheit beherrschte. Was ihm umso höher anzurechnen ist, wenn man rückblickend bedenkt, wie viel verbrannte Erde sein Vorgänger Jose Mourinho auf taktischer und menschlicher Ebene in Valdebebas hinterlassen hatte.
Wenn es darauf ankam, verband Ancelottis Real mannschaftstaktische Disziplin mit einem mittlerweile charakteristischen, überfallartigen Vertikalspiel. Als bestes Beispiel dient das 1:0 im Halbfinal-Hinspiel gegen Bayern. Ancelotti hatte den richtigen Kompromiss gefunden. Die perfekte Symbiose für das Bernabeu, das sich gleichsam nach Spektakel wie Trophäen sehnt.
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