Die Stimme des Kommentatoren war voll von Emotionen, fast überschlug sie sich angesichts der unerträglichen Spannung, die sich auf dem glühenden Asphalt ereignete und die Tausende gebannt vor den Fernsehbildschirmen miterlebten. "5,4,3,2,1", zählte er auf französisch herunter und längst war klar, was noch niemand registrierte, niemand registrieren wollte: "Fignon a perdu la Tour de France 1989", sagte er - "Fignon hat die Tour de France 1989 verloren" - und ließ einen fiktiven Hammer auf die Hoffnung so vieler Franzosen hinab fahren.
Sekunden später überquerte der Athlet die Ziellinie. Er ließ sich erschöpft fallen, die Hand vor den Augen, das dünne blonde Haar verschwitzt in der Stirn. Wenn Enttäuschung ein Bild braucht, diese Szenerie, wie ein Sportler im Gelben Trikot, das eigentlich den Sieg symbolisiert, auf dem Asphalt von Paris liegt und zu erschöpft ist, um zu weinen, war die menschgewordene Enttäuschung in Perfektion.
Acht Sekunden machten Fignon berühmt
Acht Sekunden fehlten Laurent Fignon am Ende auf Sieger Greg LeMond. Acht Sekunden, die über triumphalen Sieg oder grenzenlose Enttäuschung entschieden. Acht Sekunden, die Fignon als Symbol der Menschlichkeit des Sports berühmt machten. Der Kontrast der Fernsehaufnahmen, die einen enthusiastischen Sieger LeMond zeigten und einen dann doch bitterlich weinenden Verlierer Fignon, brannte sich in das Gedächtnis der damaligen Zuschauer ein und löst noch heute Gänsehaut aus, selbst wenn man die Szenen in schlechter Qualität auf YouTube ansieht.
Laurent Fignon wurde zum tragischen Helden. Zum Kämpfer, der das Ziel stehend K.o. erreichte und am Ende trotzdem noch einmal aus dem Sattel gegangen war, obwohl alle seine Muskeln "Nein!" schrien. Man mochte mit dem Mann mit der Brille weinen, der sich vier Etappen zuvor mit einem verwegenen Husarenritt völlig verdient das Gelbe Trikot von LeMond zurück erkämpft hatte. Die Tour de France 1989 ging in die Sportgeschichte als eines der spannendsten Events aller Zeiten ein und verlieh dem Radsport einen Höhepunkt, als Doping zwar ein Thema war, keinesfalls aber das dominierende und letztendlich zersetzende Element, das es heute ist.
Fignon siegte 1983 und 84, LeMond 86
Der Franzose wurde am 12. August 1960 in Paris geboren und begann mit 22 Jahren seine Profikarriere. Bereits ein Jahr später machte er sich unsterblich und gewann die Tour. Der Mann mit der runden Brille und dem blonden Pferdeschwanz reihte sich in die illustre Riege der französischen Radsportlegenden wie Breton, Bobet, Aunquetil oder Seriensieger Hinault ein, als er auch 1984 triumphierte. "Der Professor", wie sein Spitzname wegen seiner Sehhilfe lautete, gewann den Giro d'Italia, Mailand-San Remo und zwei Mal die Tour. Dennoch blieb er bis zu seinem Krebstod im Jahr 2010 immer der Mann, der 1989 in letzte Sekunde das Maillot Jaune verlor - auch wenn er einst mit den inzwischen berühmten Worten auf diese Tatsache reagierte: "Nein, ich bin der Mann, der sie zweimal gewonnen hat!"
Greg LeMond erblickte 1961 in Lakewood, Kalifornien das Licht der Welt, startete ebenso wie Fignon 1982 seine Karriere und siegte 1983 überraschend bei den Straßen-Weltmeisterschaften. 1985 war er bei der Tour de France der beste Fahrer, musste auf zwei Bergetappen aber bei seinem Kapitän Hinault bleiben, der am Ende ganz oben stand, während LeMond nur der zweite Platz blieb. "Wir waren gute Freunde", sagte der Amerikaner später über Hinault. Und so kam es, dass 1986 LeMond von der Leine gelassen wurde, während Hinault den Edelhelfer mimte. Das Duo war in den Bergen hoch überlegen und feierte gleich zwei Doppelsiege. Überlegen wurde LeMond als erster Nicht-Europäer Tour-Sieger.
35 Schrotkugeln durchsiebten LeMond
Im Frühjahr 1987 schließlich der Schock für die Sportwelt: LeMond war bei einem Jagdunfall von seinem Schwager lebensgefährlich verletzt worden. Eine Schrotladung traf ihn und über 30 Kugeln durchsiebten sein Kapital als Sportler, seinen Körper. "30 Schrotkugeln stecken noch immer in meinem Körper, zwei sogar im Herzbeutel", sagte er 1990 dem Spiegel. "Als das Blut mir damals mit jedem Herzschlag in 30 Zentimeter hohen Fontänen aus vielen Löchern im Rücken schoss und ich kaum noch atmen konnte, weil meine rechte Lunge zusammengefallen war, habe ich an meinen Tod geglaubt."
Doch er schaffte das Wunder und saß bereits ein Jahr später wieder im Sattel, an Hochleistungssport wie vor dem Unfall oder gar das Bestehen einer Rundfahrt, die jeden Sportler ans Limit führt, war jedoch nicht zu denken. Sein Team PDM, damals Branchenprimus, hatte in seiner Abwesenheit mit dem Iren Stephen Roche den Tour-Sieger gestellt und ekelte LeMond regelrecht aus dem Team.
Unter News -> Page 2 findet Ihr ab sofort auch in der App alle Artikel!
"Greg, so hieß es nun, vielleicht haben deine Ärzte wirklich falsch diagnostiziert, möglicherweise ist deine Lunge doch kaputt", erinnerte er sich, "vielleicht leidest du auch an einer Bleivergiftung, du weißt, wegen der Kugeln. Schließlich wollte ich nicht mehr für diese Leute fahren." LeMond kündigte und sein Ex-Team sparte sich Hunderttausende Dollar an Gehalt. Der unbedeutende belgische Rennstall A.D.R. Agrigel-Bottechia gab ihm einen Vertrag und bereits 1989 ging er erneut bei der Tour de France an den Start.
Auch Fignon war bereits abgeschrieben, obwohl er vor dem Start der Tour 89 erst 29 Jahre alt war. Der Lokalmatador hatte nach seinen Triumphen mit Verletzungen (Achillessehnenoperation und Knochenbrüche) und Dopingvorwürfen zu kämpfen. In diesem Punkt glichen sie sich also vor dem Start der legendären Tour 1989. Beiden wurde der Sieg nicht zugetraut, LeMond schon gar nicht. Beide gingen auf die 30 zu, im kraftraubenden und verschleißenden Sport-Radfahren waren beide auf dem absteigenden Ast, so die Meinung der Branche.
Triumvirat der vermeintlichen Rentner
Es kam anders: Fignon und LeMond lieferten sich mit dem Spanier Pedro Delgado, ebenfalls 29, einen packenden Dreikampf, der Erinnerungen an frühere Zeiten, in denen Coppi oder Merckx dem Radsport geholfen hatten, groß zu werden, weckte. "LeMond, Fignon, Delgado: Ein Triumvirat ehemaliger Tour-Stars beherrscht das weltgrößte Radsportereignis. Athleten in den besten Radlerjahren feiern da ihr Comeback, die Fachleute schon auf die Liste der Frührentner gesetzt hatten", schrieb der Spiegel begeistert während der Tour.
Beim Einzelzeitfahren auf der fünften Etappe triumphierte LeMond und schlüpfte ins Gelbe Trikot. Ausschlaggebend und am Ende mitentscheidend für den Tour-Ausgang waren sein Pioniergeist. Er war einer der Ersten, die im Windkanal experimentierten und fuhr, anders als Fignon und Delgado, mit einem Triathlon-Lenker und einem Tropfenhelm, die ihm stromlinientechnisch einen klaren Vorteil einbrachten.
"Wheelsucker" und "Gequälter Professor"
Delgado hatte beim Prolog kurioserweise seinen Start verpasst und wurde deshalb mit fast drei Minuten Rückstand Letzter, umso größer war seine Moral, als es in die Berge ging. "Delgados Attacken", kommentierte L'Equipe verblüfft, als sich der Spanier auf Rang vier geschoben hatte, "haben die Tour total auf den Kopf gestellt."
Derweil bewies Fignon Durchaltevermögen und eroberte mit seinem unkonventionellen Stil auf der zehnten Etappe seinerseits das Trikot des Gesamtführenden und die Sympathien der Fans, die den emotionslosen und sehr passiv fahrenden LeMond trotz seiner Unfall-Vorgeschichte nicht als Helden feierten, sondern als "Wheel-Sucker" deklarierten, also einen Konter-Fahrer, der an den Hinterrädern seiner Vorderleute hängt und sehr taktisch fährt. Fignon dagegen überzeugte mit seinem gequälten Gesicht, seinen Attacken und seinem Kampf, den er sich mit dem eigentlich besseren Kletterer Delgado lieferte und wurde alsbald von seinen Kritikern ein wenig spöttisch "Gequälter Professor" gerufen.
Es kam das nächste Zeitfahren und wieder eroberte LeMond das Trikot zurück, wie bei allen Führungswechseln zuvor und plötzlich betrug der Abstand weniger als eine Minute. Obwohl LeMond Edelhelfer wie der spätere Seriensieger Miguel Indurain (Delgado) oder Bjarne Riis und Pascal Simon (Fignon) fehlten, war sich die Journaille einig, dass er genug Stehvermögen und strategisches Geschick beweisen würde, um seinen knappen Vorsprung vor Fignon nach Paris zu retten, zumal noch ein weiteres Einzelzeitfahren anstand. Doch es kam anders. Fignon setzte mit 53 Sekunden Rückstand alles auf eine Karte. Die 17. Etappe hatte den legendären Zielort Alpe d'Huez und sollte Teil eins eines vierteiligen Dramas werden.