Mit dem wilden Piraten auf dem Chatrier hatte der schüchterne Gentleman in Anzug und Schlips, der kurz vor Mitternacht umrahmt von seinen Eltern an einem Champagnerglas nippte, nichts mehr zu tun. Im Hintergrund der Restaurant-Terrasse, auf der nach dem "donnernden Triumph" (New York Times) die leise Siegesfeier stieg, schimmerten Eiffelturm und Invalidendom.
Als er vier Tage später nach Spanien zurückkehrte, feierte ihn die Nation als Volkshelden, hofiert wie ein Hollywoodstar. Monitore pflasterten den Pressebereich, das Sicherheitspersonal hatte alle Hände voll zu tun und Nadals Agent telefonierte ohne Unterlass. Kameras hielten jede Regung des Teenies fest, er musste unzählige Tennisbälle signieren. Und seine Rede wurde live in alle Teile Spaniens übertragen.
Sein Englisch kam noch zögernd und unbeholfen daher. Der Sieg sei "himposseeble. There's nothing I can say." Rafa vermied daher die fremde Sprache, wo er konnte. "Ich hoffe, das alles verändert mich nicht", sagte er auf der Pressekonferenz deshalb in seiner Muttersprache. "Ich möchte weiterhin ein 19-jähriger Jugendlicher sein und mein Tennis spielen."
"Alles war möglich"
Spricht Nadal heute über seinen Durchbruch, tut der Mallorquiner das in fließendem Englisch mit spanischem Zungenschlag, etwa gegenüber dem Roland-Garros-Magazine. "Ich wusste, dass das gegen Puerta ein tricky Match werden würde, und das wurde es. Aber ich wusste auch, dass alles möglich war." So zurückhaltend er hinter den Kulissen auftrat, so selbstsicher war der Youngster schon damals mit seinem Spiel auf der Asche.
"Ich war in zwei Monaten von Rang 50 zum Roland-Garros-Champion aufgestiegen. Aber ich bin gut damit umgegangen, weil ich derselbe blieb und weiter hart arbeitete." Was seinen schnellen Aufstieg ermöglichte? Er sei ein Spieler mit "unglaublicher mentaler Energie und einer großen Fähigkeit zur Konzentration" in "erstaunlicher Form" gewesen, und noch dazu "mit viel Intensität und Leidenschaft" aufgetreten.
Nadal: "Ich bin nervös"
An der Gefühlslage vor einem Grand-Slam-Turnier habe sich trotz seiner immensen Erfahrung nichts geändert. "Ich bin nervös. Ich will gewinnen, weil ich noch einmal dieses unbeschreibliche Gefühl fühlen möchte, das du fühlst, wenn du ein Grand-Slam-Turnier gewinnst."
Die spezielle Verbindung zwischen ihm und Paris sei auch im elften Jahr noch immer vorhanden. "Ein Sieg in Roland Garros gibt mir die Stärke, andere Turniere zu gewinnen."
Mit einem weiteren Triumph könnte Nadal am 7. Juni 2015 Geschichte schreiben. Wieder einmal. Der Spanier würde zum zehnten Mal in elf Jahren den Coupe Suzanne Lenglen in die Höhe hieven.
Auf der Jagd nach La Decima
Federer glaubt trotz der Schwächephase an den Spanier: "Ich bleibe dabei, Nadal ist mein Favorit. Egal, was alle meinen. Der Kerl hat nur einmal in zehn Jahren verloren." Er hat aber seit Paris 2014 kein Viertelfinale mehr bei einem Grand Slam gewonnen, ihm gelang nur noch ein Turniersieg (Buenos Aires 2015).
Und der Weg zum Titel war schon lange nicht mehr so hart: Als Nummer sieben der Welt droht Nadal ein frühes Aufeinandertreffen mit Novak Djokovic und Co. Erstmals seit Mai 2005 rangiert der Linkshänder außerhalb der Top 5.
Von Murray entzaubert
Was Experten und Fans bei Nadals Niederlagen in Rom (Viertelfinale vs. Stan Wawrinka) und Madrid (Finale vs. Andy Murray) am meisten überraschte? München-Champion Murray demonstrierte auf seinem einst ungeliebten Belag, wie man die tödlichste Waffe im Welttennis der vergangenen zehn Jahre - Nadals überragende Topspin-Vorhand - ausschaltet.
Der Matchplan des Schotten: Näher an der Grundlinie stehen, Nadals Vorhand früh attackieren und ihn mit druckvollen Inside-Out-Schlägen weit aus dem Platz treiben. Auf der linken Seite seiner Platzhälfte festgenagelt, kam der Spanier nicht mehr dazu, seine Rückhand zu umlaufen und von der Einstandseite aus mit der Vorhand zu diktieren. Außerdem produzierte Nadal dadurch 26 (!) Vorhandfehler und wurde mehrfach auf dem falschen Fuß erwischt.
Murray war erst der vierte Spieler überhaupt, der Nadal in einem Sandplatz-Finale schlagen konnte (nach Djokovic/4 Mal, Roger Federer/2 und Horacio Zeballos/1). Auch in den letzten 52 Wochen kassierte der Spanier nur fünf Niederlagen auf diesem Belag.
Doch der Mythos des Sandplatzkönigs, der es auf Asche zwischen April 2005 und Mai 2007 auf 81 gewonnene Spiele brachte, bröckelt. Wenn Nadal den Trend umkehren kann, dann auf dem Court Centrale de Paris.
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French Open 2015 im Überblick