Handball-WM - Panel: "Die WM hat das Potenzial, in einem historischen Desaster zu enden"

Alfred Gislason geht in sein erstes Turnier als Bundestrainer.
© imago images/Perenyi

Hätte die Handball-WM in Ägypten abgesagt werden müssen? Was ist für die deutsche Nationalmannschaft möglich? Und worin liegt der größte Unterschied zwischen Bundestrainer Alfred Gislason und seinem Vorgänger Christian Prokop? Vor dem ersten Spiel des DHB-Teams gegen Uruguay (Fr., 18 Uhr im LIVETICKER) diskutiert Welthandballer Daniel Stephan im WM-Panel mit den SPOX-Redakteuren Florian Regelmann, Thomas Weber und Felix Götz.

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1. Die WM in Ägypten hätte abgesagt werden müssen

Daniel Stephan: Ich bin eigentlich ein Freund klarer Aussagen. Bei diesem Thema weiß ich es aber selbst nicht genau. Ich glaube, dass es in dieser schwierigen Zeit der Pandemie kein Schwarz oder Weiß gibt. Es gibt gute Gründe für und gute Gründe gegen die WM. Für den deutschen Handball sind diese großen Turniere enorm wichtig, weil man sich im Fernsehen einem Millionenpublikum präsentieren kann. Andererseits ist es natürlich auch ein gutes Argument, wenn man sagt, dass es derzeit wichtigere Dinge als eine Handball-WM gibt. 32 Mannschaften in einer Blase - das ist eine schwierige Aufgabe. Wenn ich Spieler wäre und keine Familie hätte, würde ich die WM trotzdem sofort spielen. Gleichzeitig habe ich sehr großes Verständnis für die Absagen von Spielern wie Patrick Wiencek oder Hendrik Pekeler, die ihre Frauen und Kinder derzeit nicht alleine lassen möchten. Zum Glück wurde nun wenigstens auf Zuschauer verzichtet, das hätte kein gutes Bild abgegeben.

Florian Regelmann: Eindeutiges Ja. Es geht mir hier aber nicht um die Handball-WM als Einzelfall. Oder nur um den Sport. Ginge es nach mir, wären aktuell zum Beispiel auch viele Betriebe geschlossen. Alle Argumente für die Austragung einer WM wie "Muss stattfinden, damit der Handball am Leben bleibt" oder "Wir müssen mit dem Virus leben" sind für mich Unfug. Natürlich haben die großen Turniere eine immense Bedeutung für eine Sportart wie den Handball. Sich nicht wie jedes Jahr ins Schaufenster der Öffentlichkeit stellen zu können, wäre bitter gewesen. Aber, welch Überraschung, auch wenn die WM um ein Jahr verschoben worden wäre, würde am Ende des Tages weiter Handball gespielt werden. Es reicht, jeden Tag die Nachrichten zu verfolgen, um zu erkennen, dass aktuell verdammt nochmal nicht die Zeit ist, um eine Handball-WM in Ägypten mit 32 Teams aus der ganzen Welt auszutragen. Da spielt es nicht mal eine Rolle, ob das Hygienekonzept nun besonders gut oder schlecht ist. Es ist einfach nicht die Zeit dafür in einem globalen gesamtgesellschaftlichen Kontext, wenn alleine in Deutschland jeden Tag an die 1000 Menschen sterben. Dass es eine kleine Revolte der Spieler gebraucht hat, um zu verhindern, dass sogar Fans zugelassen werden, setzt dem Ganzen nur noch die Krone auf.

Felix Götz: Grundsätzlich habe ich Verständnis dafür, dass der Weltverband versucht, die WM durchzuziehen. Und natürlich gibt es auch aus Sicht des deutschen Handballs keine Veranstaltung, die auch nur in Ansätzen so wichtig wie die Turniere der Nationalmannschaft ist. Was ich nicht verstehe ist, warum man dann nicht konsequent war. Wie kann man das Wort Bubble in den Mund nehmen, wenn die Teams erst ein oder zwei Tage vor Turnierstart anreisen? Das ist doch albern! Die Anreise aller Teams hätte meiner Meinung nach spätestens eine Woche vor WM-Auftakt erfolgen müssen. Dann hätte sichergestellt werden müssen, dass jede Nation bis zum ersten Spiel noch einmal komplett für sich bleibt. Und selbstverständlich hätte jede Mannschaft bereits vor der Abreise nach Ägypten für einige Tage in der Heimat vollständig isoliert sein und danach jeweils in einem bestmöglich geschlossenen System in Charterflugzeugen anreisen müssen. Wenn das alles nicht finanzierbar oder umsetzbar ist, kann man derzeit eben keine WM ausrichten. Auch die ersten Aussagen von den Zuständen vor Ort, beispielsweise von Sander Sagosen und Axel Kromer, tragen nicht zur Beruhigung bei. Im Gegenteil: Diese Aussagen und der Auftakt mit den aufgrund von Coronafällen ausgetauschten Mannschaften lässt mich befürchten, dass diese WM das Potenzial hat, für den Handball in einem historischen Desaster zu enden.

Thomas Weber: Nein, die WM hätte nicht abgesagt werden müssen. Zumindest nicht aus deutscher Sicht. Hierzulande ist das jährliche Großevent von einer derart großen Wichtigkeit, dass es unersetzlich ist. Die Bundesliga hat im Vergleich zur Nationalmannschaft keine große Strahlkraft, das DHB-Team muss also Jahr für Jahr im Januar medial präsent sein, damit der deutsche Handball wirtschaftlich auf dem aktuellen Niveau überleben kann. Zum Argument der Erfüllung von Sponsoren-Verträgen, also der kurzfristigen Notwendigkeit, kommt langfristig gesehen das der Mitgliedergewinnung hinzu. Kinder und Jugendliche fangen vermehrt nach Großturnieren mit dem Handball an, hinlänglich bewiesen ist das nicht nur durch die Mitgliederhochs nach den Nationalmannschaftserfolgen 2007 und 2016.