"Wir haben gemeinsam entscheiden", hatte ein aufgewühlter Alejandro Sabella noch beteuert. Vergebens. Geglaubt hat es ihm niemand. Ihm, einem der größten Trainer Südamerikas. Dem, den sie in der Heimat "El Mago", den Zauberer, nennen.
In einem neuen System hatte der Coach der Albiceleste seine Spieler im ersten Gruppenspiel der WM auf den Platz geschickt. Das Resultat war eine dreiviertel Stunde Fußball zum Abgewöhnen. Kein Plan, keine Struktur, nichts.
Was also tun? Sabella weiß viel über Fußball, vor allem aber weiß der 59-Jährige um den Status von Lionel Messi. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es der Superstar des FC Barcelona war, der in der Halbzeit jenes Spiels gegen Bosnien-Herzegowina das Kommando übernahm und die Taktik änderte. Alleine. Es blieb von da an bei Messis Lieblingssystem.
Argentinische Minimalisten
Was bei Argentinien allerdings auch blieb, war das schauderhafte fußballerische Niveau. Die Albiceleste war als Mitfavorit ins Turnier am Zuckerhut gestartet, dass die Mannschaft jetzt in der Runde der letzten Vier steht, bestätigt die Vorschusslorbeeren in gewisser Weise. Überzeugen konnten sie bei ihren glanzlosen Auftritten bislang aber nicht.
Belgiens Kapitän Daniel van Buyten haderte deshalb. Seine Roten Teufel wurden im Viertelfinale beim 0:1 Opfer der argentinischen Minimalisten, die jedes ihrer bisherigen fünf Spielen gewinnen konnten - immer mit genau einem Tor Unterscheid.
"Setze alles, was ich habe, auf Deutschland"
"Spielt Deutschland gegen Argentinien, dann setze ich alles, was ich habe, auf Deutschland. Deutschland würde Argentinien locker schlagen", verkündete der Routinier nach der Partie noch in den Katakomben. Angst verbreiten die Blauweißen trotz des Halbfinaleinzugs nicht. Das Sprichwort vom guten Pferd, das nur so hoch springt, wie es muss, ist bei der Albiceleste so angebracht wie ausgelutscht.
Auch in der Heimat war der Anspruch lange ein anderer. Viele der hochgelobten Kicker blieben hinter ihren Ansprüchen zurück. Kun Agüero war bis zu seiner Verletzung ein Schatten seiner selbst, PSG-Angreifer Ezequiel Lavezzi und Gonzalo Higuain enttäuschten ebenso. Der einzige Angreifer, der liefert, ist der Floh aus Barcelona.
"Wir dürfen nicht nur der FC Messi sein", schimpfte Diego Maradona deshalb schon bald. Verbittert, wütend und zornig sei er, wie sich die Mannschaft in jedem Spiel quält. Das Spiel sei "müde und vorhersehbar, und das mit diesen Spielern, es ist ein Jammer. Wir müssen alle leiden", klagte der Weltmeister-Kapitän von 1986 und sprach damit vielen Argentiniern aus der Seele.
Die Macht der Breite
Dabei übersah die argentinische Legende wie viele in der stolzen Fußballnation, dass die Albiceleste in anderen Disziplinen, fernab vom großen Spektakel, zu glänzen weiß.
Gerade die Abwehr - vor dem Turnier im Vergleich zur Weltklasse-Offensive als Schwachstelle ausgemacht - überragt. Argentinien kassierte erst drei Gegentreffer und ist das einzige Team, das noch nicht in Rückstand geriet.
Zwar fehlen die ganz großen Namen, es gibt keinen Thiago Silva oder Mats Hummels, doch kann sich Argentinien auf eine breite Auswahl an routinierten Kämpfern verlassen, die ihre Leistung bringen, wenn sie gebraucht werden.
Sei es ein Pablo Zabaleta, Ezequiel Garay oder Hugo Campagnaro - während der ganzen WM kam es genau drei Mal vor, dass ein blauweißer Verteidiger Zweikampfwerte unter 50 Prozent hatte. Martin Demichelis kam gegen Belgien im Alter von 33 Jahren zu seinem ersten WM-Einsatz seit der 0:4-Klatsche gegen die DFB-Elf in Südafrika. Gegen die hochkarätige Offensive der Belgier lieferte er eine fehlerfreie Vorstellung ab.
Messi als Zeichen der Hoffnung
Und ganz vorne, da gibt es ja allen Formschwächen zum Trotz immer noch einen Lionel Messi. Er sei "das Wasser in der Wüste", wie Sabella beim Schwärmen über seinen Kapitän den Philosophen in sich entdeckte. Der, der Lösungen findet, wo es keine gibt. "Wenn uns die Luft ausgeht, gibt er uns neuen Atem. Er ist für uns ein Zeichen der Hoffnung."
Dabei liefert auch der viermalige Weltfußballer wahrlich keine Gala nach der anderen ab. Dennoch ist auch er zur Stelle, wenn seine Genialität gebraucht wird. Und mag Messi auch manchmal lethargisch oder lauffaul wirken - er verkörpert Argentinien bei dieser WM wie kein anderer: Nicht schön, aber immer effektiv. Und am Ende erfolgreich.
In der Gruppenphase fiel genau ein Tor für Argentinien, an dem La Pulga nicht beteiligt war. Vier Mal traf er selbst, ein weiteres legte er auf. Genau wie den 1:0-Siegtreffer im Achtelfinale gegen die Schweiz. Der entscheidende Treffer gegen Belgien wäre ohne eine starke Einzelaktion von ihm nicht möglich gewesen.
Motor und Anschieber di Maria
Im Hype um seine Person und den Heiligsprechungen ob seiner Auftritte geht dabei ein weiterer Erfolgsgarant fast unter. Angel di Maria war in den schwächeren Phasen von Messi der Motor und Anschieber im argentinischen Spiel, er absolvierte nach dem Kapitän die meisten erfolgreichen Dribblings im laufenden Turnier (25).
Natürlich ist der hagere Real-Spieler weit von der Genialität eines Messi entfernt. Dennoch waren es sein unermüdlicher Einsatz und sein feiner Fuß, die die Gauchos durch die K.o.-Phase trugen.
"Nur Angel Di Maria und Messi halten das Boot über Wasser", wusste Diego Maradona schon nach der Vorrunde. Der verletzungsbedingte Ausfall des 26-Jährigen wird den ohnehin oftmals uninspiriert agierenden Südamerikanern Tempo und Variabilität rauben - und die Verantwortung vollkommen auf die Schultern Messis übertragen.
Das Team, das es zu schlagen gilt
Von Skepsis ist - zumindest beim Anhang - aber mittlerweile nichts mehr zu spüren. Die Kritik an der Spielweise ist angesichts der historischen Chance auf den Titelgewinn im Land des Erzfeindes der puren Euphorie über die Ergebnisse und dem vielleicht ganz großen Coup gewichen.
Die Zeichen stehen schließlich gut. Die Argentinier gewannen bisher jedes ihrer drei Halbfinalspiele bei WM-Endrunden, mit den fünf Siegen in Serie stellten sie zudem ihren eigenen WM-Rekord von 1986 ein. Damals holten die Gauchos übrigens den Pokal - im Finale gegen Deutschland.
"Der Tisch ist gedeckt", verkündete die große Tageszeitung "La Nacion" schon vor dem Halbfinale gegen Robben und Co. "Wir sind an einer Stelle, an der Argentinien viele Jahre nicht war, und wir dürfen uns diese Gelegenheit nicht nehmen lassen", tönte Mittelfeldchef Javier Mascherano vor dem wohl mit Abstand schwersten Spiel, dass die Argentinier, die mit Ausnahme von Geheimfavorit Belgien mit dem Iran, Nigeria, WM-Neuling Bosnien-Herzegowina und der Schweiz noch keinen großen Brocken als Gegner hatten, zu bestreiten haben.
Wie es sich gehört, meldete sich auch Maradona vor dem Semifinale zu Wort. Von noch mehr warnenden Worten oder Kritik fehlt aber mittlerweile auch bei ihm jegliche Spur. El Mago wird es schon richten. Und neben dem Papst und ihm selbst haben sie haben schließlich La Pulga: "Argentinien ist die Mannschaft, die es nun zu schlagen gilt!"