Der beste Kader aller Zeiten
Dabei hätte es eine triumphale WM für Deutschland werden können. Zum wohl einzigen Mal besaß man auf jeder, wirklich jeder Position absolute Weltklasseleute. Schaut man auf diesen Kader, bleibt einem die Spucke weg. Karl-Heinz Förster, das defensive Nonplusultra. Oder was gäbe man heute für die Außenverteidiger Kaltz und Briegel? Topleute wie Augenthaler, Jakobs, Allgöwer, Völler, Dieter Hoeneß oder Klaus Allofs schafften es nicht einmal in die Gruppe der 22.
Viele starke Charaktere bildeten einen bemerkenswert charakterlosen Haufen. Schon die Vorbereitung am Schluchsee inmitten von Schwarzwaldtouristen geriet zu einer einzigen Sauftour wie am Vatertag. Die Führungsspieler um Breitner spielten jede Nacht Poker bis zum Morgengrauen. Einige verzockten ihre gesamte WM-Prämie und mehr. Breitner mit seiner bewundernswerten Konstitution stand um 9 Uhr morgens wieder topfit auf dem Platz, die anderen hatten Pelz auf der Zunge und atmeten schwer.
Die vom Potenzial her beste deutsche Mannschaft aller Zeiten lieferte ein katastrophales Gesamtbild ab, dass über zwei Jahrzehnte die Sichtweise prägen sollte. Kraftvoll, aber unattraktiv und hölzern, willensstark, aber auch mit unverdientem Glück gesegnet, das ist Deutschland. Zum Turnierauftakt die peinliche 1:2-Niederlage gegen Algerien. Nie sah man Deutschland so arrogant: Derwall hatte auf jegliche Spielvorbereitung verzichtet und im Vorfeld getönt, dass seine Spieler ihn für doof erklären würden, wenn er ihnen etwas über einen dermaßen schwachen Gegner wie Algerien erzählen wolle. Das dritte Gruppenspiel dann der Nichtangriffspakt von Gijon gegen Österreich, ein Tiefpunkt der Länderspielgeschichte. In der Zwischenrunde das todlangweilige 0:0 gegen England und ein schmuckloses 2:1 gegen Gastgeber Spanien. Dazu war Kapitän Rummenigge angeschlagen und kam nicht in Topform.
Das Halbfinale gegen Frankreich hätte die angeknackste Reputation zum Großteil wieder herstellen können. Eines der größten Spiele der Historie. Selbst dieser zerstrittene Haufen hatte sich zusammengerissen und gegen brillante Franzosen Widerstand geleistet. Comeback in der Verlängerung nach 1:3-Rückstand! Doch diese heroische Leistung wurde überschattet vom brutalen Foul von Schumacher gegen Battiston. Statt sich um den Schwerverletzten zu kümmern, hatte sich der Toni minutenlang provozierend die Alustollen am Pfosten abgeklopft...
Meditation auf westfälisch
Der ganze Murks dieser WM hätte Horst Hrubesch durch den Kopf gehen können, als er sich auf den Weg machte. Doch Hrubesch blendete alles aus - das hatte er als Angler gelernt. Meditation auf westfälisch. Hrubesch hatte sich die letzten zwölf Monate aus allen Reibereien rausgehalten, weil er im Gegensatz zum HSV in der Nationalmannschaft keine Lobby hatte. Nun galt es, einen Job zu erledigen. Noch knapp zwei Meter bis zum Elfmeterpunkt, der Schiedsrichter hatte den Ball mittig auf die Kreide gelegt. Was sollte er da noch groß rumfummeln und rummachen? Hrubesch nickte kurz, stoppte ab und ging zwei Schritte zurück.
Er hatte die Kugel nicht berührt und zurechtgerückt. Versuchen Sie mal, einen Elfmeter zu schießen, ohne vorher mit den Händen Kontakt zum Ball aufzunehmen! Da sträubt sich doch alles! Der Elfmeter, mit dem Horst Hrubesch Deutschland ins Finale der WM 1982 schießt, ist so ziemlich das Coolste, was es je im Fußball zu sehen gab!
Doch auf solche Kleinigkeiten achtete keiner mehr, nachdem die deutsche Mannschaft bei dieser WM sämtliche Sympathien verspielt hatte. Dieses Team hatte mit seinem Auftreten nahezu Unmögliches bewirkt: drei Tage später hielt beim Finale die ganze Fußballwelt zu Italien.
Was sonst noch wichtig war:
- Weltmeister wurde Italien, das ohne Sieg die Vorrunde überstand. Drei Unentschieden reichten zum Weiterkommen. Torschützenkönig wurde Paolo Rossi, der in diesen drei ersten Partien gänzlich leer ausgegangen war. Rossi fehlte die Spielpraxis, da er gerade erst eine zweijährigen Sperre wegen Spielmanipulation abgesessen hatte. Zum Zeitpunkt der WM war Rossi 25 Jahre alt, wohnte aber immer noch bei Mutti.
- Im Gegensatz dazu steht der wohl am ältesten aussehende 18-Jährige aller Zeiten: Guiseppe Bergomi. Mit Locken und Schnäuzer wirkte der Youngster wie ein Teppichhändler in den Mittvierzigern. Heute sieht Bergomi jünger aus als er selbst mit 18.
- Danke an die nordirischen Fans! Was heute als das Normalste der Welt erscheint, erblickte man erstmals bei dieser WM im Fanblock der Nordiren. Alle hatten grüne Trikots an! Schon seltsam, dass vorher nie jemand drauf gekommen war. Zuvor ging man mit Fähnchen, einem bunten Hut oder einem Transparent ("Erkelenz grüsst den Weltmeister Deutschland!") ins Stadion. Ein ganzer Block mit Trikots: das war neu und machte Schule.
- Zu bejubeln hatten die Nordiren auch etwas. Norman Whiteside löste mit 17 Jahren und 41 Tagen Pele als jüngster Spieler der WM-Geschichte ab.
- Kuwaits Scheich al Shabah gelang, wovon so mancher Spieler träumt. Nachdem Giresse das 4:1 gegen sein Land erzielt hatte, stürmte das Staatsoberhaupt Kuwaits auf den Rasen und forderte die Annullierung des Treffers, weil angeblich ein Pfiff ertönt sei. Al Shabah unterstrich seine Ansicht mit der Drohung, das Spiel ansonsten abzubrechen. Dem sowjetischen Schiedsrichter Stupar schien's irgendwann egal, ob 3:1 oder 4:1. Er nahm unglaublicherweise das Tor zurück, der Scheich war beruhigt. Die Debatte hatte eine Viertelstunde gedauert: 60 Sekunden nach Wiederaufnahme der Partie erzielte Bossis das 4:1 für Frankreich. Schiedsrichter Stupar durfte anschließend keine internationalen Spiele mehr leiten.