Die Fans wollten ihren Augen nicht trauen. Keiner begriff, was gerade passiert war. Es war totenstill im Coliseo Bicentenario. Das Unfassbare war passiert. Der Futsal-Zwerg Iran hatte den haushohen Favoriten Brasilien, den Rekordchampion und Titelverteidiger im WM-Achtelfinale bezwungen. Aus war der Traum vom Titel-Hattrick für die Selecao. 6:7 nach Sechsmeterschießen.
Allerdings wurde der sensationelle Sieg der Iraner recht schnell in den Hintergrund gerückt, denn alle Augen hefteten sich unwillkürlich auf einen Mann - auf Alessandro Rosa Vieira. Denn Brasiliens Niederlage war gleichbedeutend mit dem Karriereende des Spielers, der unter dem Künstlernamen Falcao die Futsal-Welt über Jahre dominiert und verzückt hatte.
Nach mehr als zwei Jahrzehnten in der Nationalmannschaft, zwei WM-Titeln und unzähligen Auszeichnungen hatte er angekündigt, nach dem Turnier in Kolumbien aufhören zu wollen. Mit einem derart jähen Ende der ruhmreichen Karriere des 39-Jährigen hätte niemand gerechnet, doch es war vorbei am frühen Abend des 21. September 2016 in Bucaramanga.
Welchen Stellenwert Falcao im Futsal besaß, sollte sich gleich zeigen. Die iranischen Spieler unterbrachen ihre eigene Siegesfeier, um die Ikone ihrer Sportart hochleben zu lassen und Falcao durch die Luft zu wirbeln.
"Fußball war zu langweilig für mich"
Falcao wurde unter dem bürgerlichen Namen Alessandro Rosa Vieira im Norden von Sao Paulo geboren. Seinen Spitznamen erhielt er von seinem Vater, der eine Berühmtheit im Amateurfußball rund um die Millionenmetropole war. Die Fans nannten ihn Falcao, weil er sie an Paulo Roberto Falcao, einen Star der 1970er und 80er erinnerte.
Alessandro bekam vom Papa den Beinamen Falcaozinho. Doch den verniedlichenden Namensanhang streifte er bald ab, so gut war er. Aus Falcaozinho wurde Falcao. Schon mit 15 spielte er Futsal für die Corinthians, in die Nationalmannschaft schaffte er es mit 17.
Über 200 Spiele absolvierte er für die Selecao, erzielte weit über 300 Tore. Bei fünf Weltmeisterschaften stand er im Kader der Brasilianer und erzielte bei diesen ungaubliche 48 Tore in 34 Spielen. 2008 und 2012 führte er seine Farben zum WM-Titel.
Über die Jahre machte sich der quirlige Flügelspieler mit der einzigartigen Technik über die Grenzen des Futsals hinaus einen Namen. So wurden auch Fußballvereine auf ihn aufmerksam. 2005 stattete ihn der FC Sao Paulo nach einigen Trainingseinheiten mit einem Vertrag über sechs Monate aus.
"Die Schule des Lebens"
Allerdings kam er nur in sechs von 21 Spielen zum Einsatz und merkte dabei, dass ihm "der Fußball zu langweilig" ist. "Es dauert mir zu lange, bis man wieder an den Ball kommt", erklärte er. Also kehrte er zum Futsal zurück. Er wechselte zu Malwee/Jaragua und konnte dort ohne Probleme an seine Leistungen der vergangenen Jahre anknüpfen.
Mit seinem neuen Team gewann er jede nur erdenkliche Trophäe. Es heißt, dass die Mehrzahl der Brasilianer nur wegen Falcao wisse, wo Jaragua do Sol überhaupt liegt.
"Der Futsal ist mein Leben. Alles, was ich heute habe, verdanke ich dem Hallenfußball. Ich habe mich schon als Kind für diese Sportart entschieden, obwohl ich durchaus auch Einladungen von Fußballklubs hatte. Dieser Sport war für mich die Schule des Lebens und ich habe meine Entscheidung nicht eine Minute bereut", erzählte er demütig.
Das Gesicht des Futsals
Trotz aller Unterschiede hat sich der Futsal in den letzten Jahren dem Fußball angenähert. Es wird ein verstärktes Augenmerk auf taktisches Verständnis, Disziplin und körperliche Fitness gelegt. Egal wie technisch versiert die Einzelspieler auch sein mögen, stimmen die übrigen Parameter nicht, wird es inzwischen für jedes Team im Futsal gegen ein gut eingespieltes Kollektiv schwer.
Brasilien musste das am eigenen Leib erfahren. Die Selecao dominierte die Iraner eigentlich nach Belieben, fing sich aber späte Gegentore aufgrund von Konzentrationsfehlern ein.
Das war bei früheren Turnieren noch anders. Seit der WM-Premiere 1989 in den Niederlanden ging der Titel fünf Mal an Brasilien und zweimal an Spanien. Vier Mal machte man den Titel direkt unter sich aus.
Die Einzelspieler beider Teams waren technisch einfach so stark, dass andere Nationen nicht mithalten konnten.
Doch 2016 bedeutete eine Zäsur. Brasilien, nach drei Siegen und sieben Falcao-Toren in der Vorrunde, scheiterte bereits im Achtelfinale, Spanien erwischte es eine Runde später gegen ein enorm starkes russisches Kollektiv, das sich erst im Endspiel Argentinien beugen musste.
Falcao wird zum YouTube-Star
Falcao ist oder war ein Vertreter der alten Schule. Futsal war für ihn immer die pure Freude. "Man muss den Zuschauern, die mit dem Hallenfußball nicht vertraut sind, zeigen, worum es hier geht. Daher müssen spektakuläre Aktionen und Spielfreude immer an erster Stelle stehen", verteidigte er seine Spielweise.
Und weiter: "Ich habe immer so gespielt wie jetzt. Auf der Straße, zu Hause, in der Schule, mit Freunden. Als ich Profi wurde, habe ich mich nicht verändert. Ich unterscheide nicht nach Spielen oder Gegnern. Wenn eine Situation einen Fallrückzieher oder einen Heber erfordert, dann führe ich ihn aus. Für mich ist es kein Unterschied, ob ich bei einer WM antrete oder ein Freundschaftsspiel bestreite."
Und wer ihn spielen sah, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
No-Look-Pässe, Rainbow-Flicks, verrückte Finten und atemberaubende Abschlüsse zeichneten sein Spiel aus. Durch seine spektakuläre Spielweise wurde Falcao zum Internet-Phänomen. Highlight-Videos knackten bei YouTube schon die 6-Millionen-Marke.
Gerade durch diese virale Aufmerksamkeit wurde Falcao zum Gesicht eines Sports, der sich immer weiter entfernt von der Spielweise seines schillerndsten Protagonisten.
Everybody's Darling
"Ich wollte in die Nationalmannschaft und viele Dinge für meinen Sport erreichen, doch dies hat fast schon groteske Ausmaße angenommen. An vielen Orten der Welt weiß man nicht, was Hallenfußball ist oder versteht nichts davon, aber der Name Falcao ist bekannt. Für mich ist es die größte Trophäe, die ich bekommen kann, als Botschafter einer Sportart zu fungieren, die heute in der ganzen Welt so beliebt ist", sagte er.
Neben seinen Verdiensten auf dem Platz, setzt er sich auch außerhalb der Hallen für den Sport ein. Seine Firma Falcao Sports beschäftigt sich mit dem Bau von Futsal-Schulen, von denen die ersten schon stehen. Für Falcao sind es Zufluchtsorte angesichts steigender Kriminalität auf den Straßen Brasiliens: "Viele entscheiden sich für den Fußball obwohl sie eine deutlich größere Chance im Futsal hätten. Diese Chance soll ihnen nicht verborgen bleiben."
Jetzt schon ein echtes Phänomen
Abgesehen von seinen Bauprojekten betreibt Falcao eine Website namens falcao12.com. Über diese Website vertreibt er Futsal-Ware wie Schuhe, Bälle oder Kleidung. Außerdem kann man dort über seine Karriere nachlesen, Videos und Fotos anschauen und eine Art "Tagebuch" von ihm lesen.
Falcao hat den Futsal geprägt wie kein anderer und einer Sportart auf seine eigene, spielerische Art zu großer Aufmerksamkeit verholfen. Er hinterlässt eine riesige Lücke, wird den Futsal aber weiter aktiv unterstützen und die Strahlkraft seines Namens zu nutzen wissen.
Und wer weiß, vielleicht hat er ja auch schon selbst für seinen Nachfolger auf dem Futsal-Thron gesorgt. "Er ist jetzt schon ein echtes Phänomen", sagt Falcao über Sohnemann Enzo. Der möglicher Weise neue Falcaozinho ist 13 Jahre alt. Lange kann es also nicht mehr dauern.