Bale im Zentrum?
Einer der größten Kritikpunkte an Benitez war bisher die Entscheidung, den Waliser im Zentrum aufzustellen. Abgesehen davon, dass die Offensive sich so oder so sehr frei bewegen kann, bringt Bale doch Anlagen mit, um aus der Zentrale heraus Gefahr zu entwickeln. Entscheidend ist dabei der Begriff "aus der Zentrale heraus", denn die entscheidenden Situationen sammelt er doch auf dem Flügel oder im Halbraum.
Dafür beweist er ein, sicher noch ausbaufähiges, aber sich in den letzten Spielen stetig steigerndes Gefühl, wann der richtige Moment gekommen ist.
Im ICC-Spiel gegen Manchester City ging Dani Carvajal auf der rechten Seite mit Tempo auf die Abwehr zu. Bale löste sich exakt in dem Moment aus der Position zwischen Innenverteidiger und Außenverteidiger, als diese Zugriff auf Carvajal bekommen wollten. Der Spanier spielte rechts heraus, der Waliser flankte, Karim Benzema traf aus kurzer Distanz zur Führung.
Neue Freiheit, trotzdem Balance
Hier wird die vielleicht größte Änderung von Ancelotti auf Benitez deutlich. Setzte der Vorgänger noch auf ein sehr positionstreues Spiel, ist unter Benitez offensiv kaum etwas in Stein gemeißelt. Die asymmetrische Vorgehensweise mit zwei verschiedenen Wegen über rechts und links kann sich jederzeit ändern, wenn Ronaldo sich zum Seitenwechsel entscheidet.
Die Elemente bleiben gleich, egal auf welcher Seite. Überladen mit Seitenwechsel oder ein relativ simpel ausgestaltetes Spiel den Flügel herunter mit hinterlaufendem Außenverteidiger.
Im Moment ist die Chancenerarbeitung noch aufgebaut auf vielen Hereingaben, teilweise schon aus dem Halbfeld. Der ausweichende Bale aus der Mitte vereinfacht das Spiel an die Grundlinie, indem er im richtigen Moment mit Tempo im Rücken der Verteidiger nach außen zieht - das funktioniert rechts wie links. Denn, so Benitez, ist Real auch unter ihm "eine Mannschaft der Balance."
Höhere Balleroberungen und mehr Risiko
Balance schließt ebenso eine solide Defensive ein. In Benitez' angeblicher Paradedisziplin zeigt sich Real Madrid im Gegensatz zum letzten Jahr bisher aktiver in der hohen Balleroberung. Seien es Vorbereitungsspiele wie gegen ManCity, als die Königlichen in einem 4-2-2-2 in einem hohen Mittelfeldpressing spielten und bei Gelegenheit sogar noch weiter aufrückten oder seien es Spiele wie gegen Gijon, in denen besonders das schnelle Umschalten nach Ballverlust essenziell zum Spiel beitrug.
Real spielt etwas höher, etwas risikoreicher, als unter Ancelotti. Das ist in Anbetracht der spielintelligenten, schnellen Innenverteidiger und der nicht für ihre unglaubliche Zweikampfstärke bekannten Zentrale eine naheliegende Option. Die Balleroberungen sind etwas höher, vor allem weil die Madrilenen nach Ballverlust sehr aggressiv den Raum verengen.
Anders als beispielsweise der BVB werden nicht die nächsten Anspielstationen kurz in Mannorientierung gedeckt, während der Ballgewinner von ein oder zwei Spielern angelaufen wird, sondern nach Ballverlust rutschen die nächsten Spieler alle in Nähe des Balles und isolieren den Führenden damit vom Rest der Mannschaft - in Anbetracht der Überladungen Reals in einem Halbraum aufgrund der Überzahl gut umsetzbar.
Loch im Zehnerraum
Das Umschaltspiel hat allerdings noch seine Tücken. Zwar werden die Offensivspieler öfter in der eigenen Hälfte gesehen - dennoch hatte Madrid in den letzten Partien noch Probleme, nachdem das Gegenpressing nicht griff. Das ist nicht ungewöhnlich, schließlich ist es eine riskante Art der Verteidigung, dennoch formierte sich Real anschließend nicht immer ideal.
Oft waren 4-3-0-2-1-Positionierungen zu erkennen, in denen der rechte Offensivmann zurückfiel, Ronaldo über links aber nur zögerlich zurückkam. Das durfte er unter Jose Mourinho und Ancelotti allerdings ebenfalls, ist seine Schnelligkeit doch schon in der Vorbereitung eines Konters essenziell wichtig. Andererseits wird es gefährlich, wenn Real das 4-2-0-3-1 unterläuft.
Dann entsteht ein großes Loch vor Kroos und Modric, sie können nicht herausrücken und orientieren sich deshalb flach an der Abwehr. Gegen spielstarke Gegner ein Spiel mit dem Feuer. Hat sich die Defensive jedoch geordnet, überzeugen die Blancos mit einer horizontal sehr guten Kompaktheit, ohne dabei die Möglichkeit eines Konters nach Ballgewinn aus den Augen zu verlieren Verschiedene Spieler dürfen ihre Defensivarbeit kurz ad acta legen, um auf den Umschaltmoment zu spekulieren.
Feintuning steht vor der Tür
Die Zusammenfassung liefert der Trainer selbst. "Unser Stil wird auf Angriffsfußball basiert sein. Immer den Ball haben, wenn wir können, ihn schnell bewegen und dabei nicht die Balance zwischen Offensive und Defensive verlieren. Eine gesunde Portion Aggressivität zeigen und verschiedene Pläne zu haben. Wir müssen im Stande sein, Alternativen zu finden."
Bis jetzt findet sich Real besonders gegen tiefstehende Gegner. Das dürfte auch gegen Espanyol am Samstag nicht anders werden. Die schwierigen Spiele, die Spiele, in denen das Gegenpressing auf höchstem Niveau gefordert sein wird, die Spiele, in denen der Aufbau von hinten heraus unter Druck gesetzt werden wird, die erwarten Benitez erst noch.
Aber es ist schließlich noch früh in der Saison - und die Madrilenen werden einen Großteil ihrer Spiele gegen defensive Gegner bestreiten müssen. Dafür hat Benitez bereits einen Plan geliefert, der dann doch gut zu Real Madrid passt. Er ist ausbalanciert, überlegt und wandelbar. Das Feintuning steht noch vor der Tür, bis dahin hat der Mann aber seinen Stuhl doch auf eine erträgliche Temperatur heruntergekühlt.
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