Wer wissen möchte, wie Boulevardjournalismus funktioniert, muss genau jetzt den Blick nach England richten. "Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten, für den das Land an erster, zweiter und dritter Stelle steht", schrieb die Daily Mail in einem knalligen Text, der vor Meinung, aber auch Populismus triefte. Die Sun titelte gleichermaßen in großen Lettern und hielt inhaltlich dagegen. Tuchel besitze "alle Voraussetzungen, um ein typischer englischer Trainer zu werden. Taktisches Geschick, Tatkraft, Energie, Erfahrung - und ein verworrenes Liebesleben".
Ob es letztlich einen Patrioten oder typisch englischen Trainer überhaupt braucht, um zum ersehnten Erfolg zu kommen, sei dahingestellt. Da Englands Nationalmannschaft seit 58 Jahren auf einen Titel wartet, muss man sich der Statistiken auf Vereinsebene bedienen: Noch kein englischer Coach konnte die 1992/93 eingeführte Premier League gewinnen, beim Vorgängerwettbewerb der Champions League wartet man auf der Insel seit 1981 auf einen Erfolg eines Landsmanns an der Seitenlinie.
Nun also versucht sich mit Tuchel nicht nur erstmals ein Mann, der aus dem Land des sportlichen Erzfeindes kommt, sondern auch der erst dritte Ausländer auf dem Posten nach Sven-Göran Eriksson (2001 bis 2006) und Fabio Capello (2007 bis 2012). Der 51-jährige ehemalige Coach des FC Bayern, der ab Januar übernimmt und England zum WM-Sieg 2026 führen soll, entschied sich damit für eine Herausforderung auf für ihn bislang gänzlich unbekanntem Terrain.
Thomas Tuchels Mut und Ehrgeiz sind beachtlich
Tuchel begibt sich aus seiner Komfortzone als langjähriger Vereinstrainer. Allein deshalb sind sein Mut und Ehrgeiz durchaus beachtlich. Es wird schließlich neu für ihn sein, nicht mehr täglich auf dem Trainingsplatz zu stehen. Es wird neu für ihn, sich mit den zahlreichen Vereinstrainern seiner künftigen Spieler regelmäßig auszutauschen und gewiss interessant, wie diplomatisch es in diesen Dialogen zugeht. Denn natürlich wird auch Tuchel stets darauf pochen, in den Lehrgängen die bestmögliche Truppe zur Verfügung zu haben. Es wird auch neu für ihn sein, seine komplexen Inhalte in wenigen Trainingseinheiten, die noch dazu nur alle paar Monate stattfinden, zu vermitteln.
Es lässt sich als zarten Trend beschreiben, dass sich langjährige, konzeptionell arbeitende Vereinstrainer nun auf Verbandsebene versuchen. Das steht im Gegensatz beispielsweise zu einem Joachim Löw, der sich oft bei den Entwicklungen im Weltfußball bedient und adaptiert hat, was einst Pep Guardiola oder später Jupp Heynckes bei ihren Vereinen spielen ließen.
Die jüngsten Beispiele für diese Umkehr sind Mauricio Pochettino in den USA oder Julian Nagelsmann hier in Deutschland. Womöglich übt auch dies einen Reiz auf Tuchel aus. Gewiss eröffnet es ihm ein Spektrum der Trainerarbeit, das er noch nicht kannte: Wie viel und was kann er so dosiert überhaupt vermitteln?
England bei der WM 2026: Wer soll überhaupt besser sein?
Dass dies aber funktionieren kann, sieht man seit einem Jahr besonders bei Nagelsmann. Der 37-Jährige brachte beim DFB-Team nicht nur ein sportlich funktionierendes Gebilde auf den Weg, sondern schaffte es noch dazu, auch die Stimmung im Land gegenüber dem Nationalteam nachhaltig zu beeinflussen und ins Positive umzukehren. Besonders in England wird die Gefühlslage von Volk und Medien essentiellen Einfluss auf Tuchels Arbeit haben.
Dass er sich dem Reiz all dieses Neuen öffnet, spricht für ihn. Es ist vor allem aber auch sportlich nachvollziehbar. Schließlich hat das englische Team brutales Potential, was zuletzt zwei Finalteilnahmen unter Vorgänger Gareth Southgate belegen. Mit Blick auf den mit dutzenden talentierten Spielern gespickten Kader fragt man sich: Wer soll in zwei Jahren bei der Endrunde der Weltmeisterschaft überhaupt besser sein?
Tuchels guter Ruf hat zuletzt in München etwas gelitten, ein ganzes Jahr ohne auch nur einen einzigen Titel stellte ihm beim deutschen Branchenführer kein Ruhmesblatt aus. Dazu jammerte er recht viel, stritt sich mit TV-Experten und löste an einem für solche abseitigen Themen höchst sensiblen Standort mit einigen Aussagen über seine eigenen Spieler Kontroversen aus, die das Sportliche teils wochenlang begleiteten.
Thomas Tuchel und die Chance auf Unsterblichkeit
Er stecke in Deutschland einfach in einer Schublade fest, aus der er nicht mehr herausgelassen wird, befand Tuchel während seiner Zeit beim FC Bayern. Das lässt sich gewiss nicht leugnen. Dass sein Leumund aber schon einmal besser war, auch nicht. Insofern ist das Engagement auf der Insel auch riskant. Geht die Nummer mit England in die Hose, könnte dies Tuchel nachhaltig beschädigen.
Deutlich jedoch überwiegen eher die Vorteile, zumal Tuchel in England durch seine Zeit beim FC Chelsea von Januar 2021 bis September 2022, als er mit den Blues überraschend die Champions League gewann, in einer Schublade steckt, die positiv besetzt ist. Daran ändern auch die krakeligen Schlagzeilen der Boulevardblätter oder andere kritische Aussagen nichts.
"Ich bin sehr stolz darauf, dass mir die Ehre zuteil wird, die englische Nationalmannschaft anzuführen. Ich fühle mich seit langem mit dem Fußball in diesem Land verbunden, und er hat mir schon einige unglaubliche Momente beschert", wurde Tuchel in der offiziellen Verbandsmitteilung zitiert.
Er schwärmte von einem "großen Privileg". Und wird garantiert auch die riesige Chance im Hinterkopf haben, sich im Mutterland des Fußballs 60 Jahre nach dem letzten Titelgewinn unsterblich machen zu können.
Thomas Tuchel: Seine Karriere als Profi-Trainer im Überblick
Verein | Zeitraum | Pflichtspiele | Punkteschnitt |
1. FSV Mainz 05 | 2009-2014 | 183 | 1,43 |
Borussia Dortmund | 2015-2017 | 107 | 2,12 |
Paris Saint-Germain | 2018-2020 | 127 | 2,35 |
FC Chelsea | 2021-2022 | 100 | 2,08 |
FC Bayern München | 2023-2024 | 61 | 1,95 |