EM

"Wenn wir weniger als fünf kriegen..."

Von Fußballgold
Günter Netzer verwandelt den Elfmeter zum 2:1 gegen Gordon Banks
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Frage: Haben Sie gespielt oder ich? 1:0 für Deutschland.

Netzer: Das war ja schon mal positiv, gemessen an meiner Bemerkung zu Franz vor dem Spiel. Auch nach der Pause blieb es ein herausragendes Spiel. Francis Lee erzielte für England den Ausgleich. Sechs Minuten vor dem Abpfiff foulte der große Bobby Moore den flinken Sigi Held: Elfmeter für die deutsche Mannschaft.

Frage: Waren Sie als erster Schütze vorgesehen?

Netzer: Gerd Müller sollte schießen. Ich schaute mich um und dachte: Wo isser denn? Aber ich habe ihn nicht gefunden. Er hatte nicht seinen besten Tag, vermutlich hat er sich in diesem Moment hinten bei Katsche Schwarzenbeck verschanzt. Dann sah ich, wie sich Helmut Schön an der Seitenlinie in seiner ganzen Länge bzw. Größe aufbaute und auf mich zeigte: Du! Du! Du schießt!

Frage: Im Gegensatz zu Müller hatten Sie einen guten Tag.

Netzer: So habe ich mich auch gefühlt. Ich habe mir folglich keine Gedanken um rechte oder linke Ecke gemacht. Der Elfmeter war nicht schlecht geschossen...

Frage: Ganz ehrlich?

Netzer: ...der Elfmeter war nicht schlecht geschossen...

Frage: Nun ja.

Netzer: Wir sind uns also einig: Der Elfmeter war nicht schlecht geschossen. Allerdings halbhoch, so dass Gordon Banks noch mit den Händen an den rutschigen Ball kam. Es war wie beim Roulette: Wo fällt die Kugel hin? Doch mir war an dem Tag so viel gelungen, da gelang das auch noch. Denn ob der Ball 20 Zentimeter vor der Linie liegen bleibt oder dahinter, das ist ja reines Glück. Jetzt war auch Gerd Müller wieder zur Stelle, als erster Gratulant.

Frage: Banks schlug die Handschuhe über dem Kopf zusammen.

Netzer: Ich habe ihn ein halbes Jahr später in Lissabon getroffen, bei einem Benefizspiel für Eusebio. Da trug er eine Arm-Manschette. "Da kannst du mal sehen", habe ich zu ihm gesagt, "wie hart mein Elfmeter geschossen war, du bist ja immer noch verletzt." Er wollte diese Interpretation nicht bestätigen.

Müller sicherte den deutschen Sieg zwei Minuten vor Schluss mit dem 3:1 - typisch: Auch an einem schlechten Tag traf er noch.

Frage: Schlusspfiff. Ihr Pessimismus hatte sich in einen Triumph verwandelt. Und Sie waren daran wesentlich beteiligt. Schlich sich da in der Kabine bei der Mannschaft schon der Gedanke ein: Das geht in die Geschichtsbücher ein? Darüber werden die Fußballfans noch in dreißig Jahren sprechen?

Netzer: Nach dem Schlusspfiff hatten wir andere Sorgen. Wir waren kaputt, viele leicht oder auch heftiger angeschlagen. Wie immer gegen England waren die 90 Minuten nicht nickelig, aber doch eher hart als herzlich gewesen. Wir hatten Haken an den Kabinenwänden, aber den Mantel der Geschichte habe ich dort nicht entdeckt. Wir wussten schon, dass wir in Richtung EM-Endrunde Tolles geleistet hatten. Aber ein "Jahrhundertspiel"? Um Gottes willen! Diese Dimension kam dann später durch die Fans, die Reaktionen der Menschen auf der Straße und von den Medien, die eher als wir ein Gespür dafür entwickelten, wie das Spiel historisch einzuordnen war. Wir haben mit mir in dem Jahr noch einige sehr gute Spiele gezeigt, aber dank der Bedeutung des Spiels und der außergewöhnlichen Umstände ragt Wembley heraus.

Frage: Das Viertelfinal-Rückspiel in Berlin vierzehn Tage später endete torlos 0:0 und zählte nicht zu den guten Spielen. Als Besucher im Stadion fand ich es unspektakulär bis langweilig.

Netzer: Das ist der Vorteil, wenn man gemütlich auf der Tribüne sitzt. Berlin war kein Freundschaftsspiel. Uns ging es nur um die Qualifikation für die Endrunde. Die Engländer konnten sich nicht entscheiden zwischen dem "Alles oder Nichts" und der Angst vor einer weiteren Niederlage. So kann man natürlich keine Wende erzwingen.

1972 gab es noch die abgespeckte EM-Version: Zwei Halbfinals, Spiel um Platz drei und Endspiel. Erst nach dem Viertelfinale wurde bestimmt, wer von den vier verbliebenen Verbänden die Endrunde ausrichtet. Belgien hatte die Ehre, traf im Halbfinale auf Deutschland, die zweite Partie lautete UdSSR - Ungarn. Vor dem kurzen Trip zur Endrunde nach Belgien machte die Schön-Elf Zwischenstation in München zum Freundschaftsspiel gegen die UdSSR. Deutschland gewann 4:1. Torschütze für die Gastgeber: Gerd Müller mal vier.

Frage: Hatte dieses Spiel irgendeine Bedeutung für die wenig später anstehende EM-Schlussrunde in Belgien?

Netzer: Uns hat sehr wohl fasziniert, dass wir zur Eröffnung des Münchner Olympiastadions spielen durften. Wir haben ein tolles Spiel gezeigt, auf ganz hohem Niveau. Als wir bald darauf im EM-Finale erneut auf die Russen trafen, hatten die dann auch eine enorme Angst vor uns.

Frage: Waren Sie sich sicher, als Europameister aus Belgien heimzukehren?

Netzer: Auf jeden Fall fuhren wir mit breiter Brust die paar Kilometer über die Grenze ins Nachbarland. Wie auch sonst? Wir surften auf einer Welle des Erfolges, und alle waren voll des Lobes über unsere Art zu spielen. Wir haben sehr genossen, dass das so honoriert wurde. Wir Spieler haben ja auch oft übertrieben aufs Maul gekriegt, da durften wir jetzt mal die Hymnen ernten.

Nach dem 2:1 über Gastgeber Belgien - Torschütze: zweimal Gerd Müller - stand Deutschland im Endspiel gegen die UdSSR und gewann 3:0. Mit einer souveränen, des Titels würdigen Vorstellung. Torschützen: Zweimal der phänomenale Gerd Müller, einmal Netzer-Adjutant Herbert Wimmer. Nach dem Finale stehen die beiden Architekten des Erfolges nebeneinander. Beckenbauer reicht Netzer, der in diesen Minuten in Gestik und Mimik weit entfernt ist von einem Triumphator, den Pokal hinüber.

Frage: Ihre Reaktion sagt: "Lass mal, ist schon gut."

Netzer: Das bin ich. Das ist meine Mentalität, mein Charakter. Bei mir gibt es in solchen Augenblicken eher eine innere Selbstzufriedenheit, die ich nicht mit der Öffentlichkeit teilen möchte. Das ist keine Strategie. Ich verstehe auch die anderen, bei denen es raus muss. Bei mir war es generell auch eine Frage des Anspruchs. Deshalb konnten mich auch Journalisten selten ärgern. Allenfalls durch unsachliche Kritik oder Unwahrheiten. Dann gab es Zirkus. Ansonsten war ich immer selbst mein stärkster Kritiker. Das war von anderen nur schwer zu toppen. Kritik an sich habe ich nie abgelehnt. Ich war durch meinen Vereinstrainer Hennes Weisweiler auch so erzogen. Er wusste um meinen Wert, er sah mein Potenzial, und so hat er mich - wenn ich schon dachte: "Jetzt bin ich aber gut!" - auf Höhen getrieben, die ich sonst nie erreicht hätte. Ich musste immer gut spielen, sonst hatte ich ihn am Hals. Weisweiler hat sich bekanntlich immer mit den Stars angelegt, in Barcelona mit Cruyff, in Köln mit Wolfgang Overath. Aber ich hatte mit ihm halt am längsten das Vergnügen!

Frage: Ein letztes Mal zurück nach London: Warum klappte in Wembley so viel, was Ihnen in anderen Länderspielen nicht gelang?

Netzer: Das kann ich nicht beantworten. Das ist aus dem Nichts entstanden. In der ersten Phase des Spiels, das ist so schwer zu erklären, hat es jedem und natürlich auch mir einen unglaublichen Spaß gemacht, als wir merkten, wir können nicht nur mithalten, sondern sogar mehr. An diesem Tag ist eine Mannschaft geboren worden, die einen Maßstab gesetzt und einen Anspruch verkörpert hat, den es vorher so nicht gab. Wir sind über uns selbst hinausgewachsen an diesem Abend, und ich bin auch über mich hinausgewachsen.

Mythen werden erst stark mit der Zeit. Die Menschen müssen ein außergewöhnliches Erlebnis verarbeiten können, bis es ins Bewusstsein sinkt. Und dort bleibt. Über Jahrzehnte hinweg genoss die "Wembley-Elf" den Ruf, die spielerisch beste deutsche Mannschaft aller Zeiten gewesen zu sein. Und wer sich das Spiel vom 29. April 1972 heute auf YouTube oder auf DVD noch einmal anschaut, versteht vielleicht warum. Günter Netzer mag die Quervergleiche nicht zwischen Einst und Jetzt. Doch er wird sicherlich zustimmen, dass seinem Wembley-Team am 8. Juli 2014 ein Rivale im eigenen Lager erwuchs: Die Mannschaft, die bei der WM in Brasilien 7:1 gegen die Gastgeber gewann. Doch dieses Team wird es in unserer schnelllebigen Zeit und ihrer Inflation von Fußballspielen und -übertragungen schwerer haben, zu einem ähnlichen Mythos zu werden wie die Wembley-Elf.

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