Das Westfalenstadion war bereits halb leer, der grüne Rasen noch immer vom grellen Flutlicht erleuchtet, als Axel Witsel von Reinhard Rauball und Hans-Joachim Watzke flankiert über die Mittellinie hinweg in Richtung Spielertunnel spazierte.
Immer wieder herzte Klubboss Watzke Mittelfeldboss Witsel. Sein überbreites Grinsen erinnerte dabei an den Joker. Die Mundwinkel des Geschäftsführers von Borussia Dortmund klafften so weit und genüsslich auseinander, dass man beinahe hätte meinen können, Watzke hätte am liebsten nicht nur Witsel, sondern auch sich selbst auf die Schulter geklopft.
Der BVB brauche vielleicht noch einen Spieler, der auch mal böse gucken, der sich körperlich wehren und wenn nötig dazwischenhauen könne, das ungefähr hatte Watzke vor der Saison gesagt. Mit Witsel hat er genau diesen Spielertypen bekommen.
Witsel gehörte beim jüngsten 4:0-Erfolg der Dortmunder gegen Atletico Madrid wieder einmal zu den besten und wichtigsten Spielern seiner Mannschaft. Der 29-Jährige ordnete und dirigierte das Mittelfeld, er beruhigte das Spiel und kurbelte es an, er traf zum 1:0 und kochte Atleticos teils rustikale Hünen nicht selten trocken ab.
Dortmund nach Witsel-Verpflichtung zwischen Euphorie und Skepsis
Am Ende hatte Witsel nicht nur die meisten Pässe aller BVB-Profis gespielt, sondern auch die genausten. Insgesamt 93 Prozent, in der gegnerischen Hälfte sogar unglaubliche 98 Prozent seiner Zuspiele fanden ihren Weg zum Mitspieler. Witsel verzeichnete zudem die meisten Balleroberungen aller Spieler und gewann starke 71 Prozent seiner Zweikämpfe. Beim BVB war er nach Achraf Hakimi darüber hinaus der Akteur mit den meisten Ballaktionen.
Axel Witsel gegen Atletico Madrid
Kategorie | Witsel | Bestwert beim BVB? |
Ballaktionen | 92 | 2 (Hakimi: 95) |
Pässe | 75 | JA |
Passquote | 93%* | JA |
Pässe gegn. Hälfte | 45 | 2 (Hakimi: 47) |
Passquote gegn. Hälfte | 98%* | JA |
Zweikampfquote | 71% | 3 (Piszczek: 83%, Diallo: 78%) |
Balleroberungen | 12** | JA |
Torschüsse | 3 | JA |
(Daten von Opta *Bestwert im Spiel; **Bestwert im Spiel mit Lucas Hernandez)
Obwohl andere Spieler wie Abdou Diallo, Dan-Axel Zagadou, Hakimi oder auch Mario Götze ebenfalls stark aufspielten, war Witsel in der Gesamtheit schlicht der entscheidende Mann im lange zähen und defensiv geprägten Duell. Witsel war der Urheber des Erfolgs. Wieder einmal.
Nachdem die Dortmunder Verantwortlichen im Sommer die Verpflichtung des Lockenkopfs bekanntgegeben hatten, machte sich mitunter Euphorie breit. Witsel hatte zuvor schließlich groß bei der Weltmeisterschaft in Russland aufgespielt. Es gab aber auch Skepsis ob Witsels Vergangenheit auf Klubebene.
Witsel hatte zuletzt anderthalb Jahre in China bei Tianjin Quanjian unter Vertrag gestanden. Zuvor spielte er fünf Jahre für Zenit St. Petersburg in Russland, ein Jahr für Benfica in Portugal und viele Jahre für Standard Lüttich in Belgien. Für einen Top-Klub hatte Witsel nie gespielt.
Witsel: "BVB das beste Team, in dem ich je gespielt habe"
"Für mich", sagte Witsel nach der Partie gegen Atletico zu Goalund SPOX, "ist es das erste Mal, dass ich auf Top-Niveau spiele. Ich meine damit nicht nur den BVB, sondern auch die Bundesliga. Dortmund ist neben der belgischen Nationalmannschaft das beste Team, in dem ich je gespielt habe."
Es sei "eine riesige Herausforderung" gewesen, zum BVB zu kommen. "Ich wusste aber", sagte Witsel, "dass ich die Qualität habe, um hier zu spielen. Wenn das nicht so gewesen wäre, hätte ich anders entschieden und in China oder anderswo gespielt. Ich bin sehr glücklich."
Interessant ist es, dass es in den Führungsetagen europäischer Top-Klubs nie Zweifel an seiner Person gab. Unter anderem Real Madrid, Manchester United und Juventus Turin haben in den vergangenen Jahren versucht, den Mittelfeldmotor zu verpflichten. Auch der BVB war laut SZ bereits vor drei Jahren an Witsel interessiert. Nun hat es geklappt, weil wohl auch Matthias Sammer in nicht unerheblichem Maße um Witsel warb.
Witsel: "Habe gespürt, dass mich jeder im Klub haben wollte"
Ob es korrekt sei, dass Sammer großen Einfluss auf den rund 20 Millionen Euro schweren Transfer hatte? "Ja", sagte Witsel: "Als ich die Gespräche mit Dortmund gestartet habe, war schnell klar, dass ich kommen möchte. Ich habe aber mit allen im Klub gesprochen, auch mit Lucien Favre und mit Michael Zorc. Das war ganz wichtig, denn so habe ich gespürt, dass mich jeder im Klub haben wollte, nicht nur eine einzelne Person."
Das Vertrauen der Bosse hat Witsel Ende Oktober bereits zigfach mit Leistung gerechtfertigt. Im Schatten der explosiven Offensivkünstler ist der 29-Jährige für die Vernunft und die Balance zuständig.
In welchem Ausmaß die Dortmunder Mannschaft derzeit selbst Top-Teams wie Atletico Madrid überrollt, kommt allerdings auch für den Routinier überraschend. "Ich habe nicht erwartet, dass wir als Team so gut spielen würden, weil wir viele junge und viele neue Spieler im Kader haben. Das braucht eigentlich mehr Zeit, als es bei uns gerade der Fall ist."
Was Witsel selbst nie sagen würde: Er hat entscheidenden Anteil daran, dass die Dortmunder trotz des jungen Teams und der fehlenden Erfahrung hervorragend funktionieren. Witsel ist so etwas wie der heimliche Kapitän der Schwarz-Gelben. Belgiens Nationaltrainer Roberto Martinez bezeichnete seinen Schützling kürzlich gar als "bestes Investment im europäischen Fußball" und könnte mit Blick aufs Preis-Leistungs-Verhältnis gar nicht so weit daneben liegen.
Seit seiner Zeit bei Standard Lüttich wird Witsel auch "Chaloupe" genannt. Das Wort kommt aus dem Französischen und steht für ein Boot und somit stellvertretend für die ungeheure Ruhe, die Witsel in eigenem Ballbesitz ausstrahlt. Eine jener Qualitäten also, die Watzkes Mundwinkel am späten Mittwochabend so weit auseinanderklaffen ließen.