"FC Bayern München, wir singen und tanzen auf jedem Fußballplatz, ein Schuss, kein Tor, die Bayern, die Bayern!" schallte es kurz nach Abpfiff durch den Dortmunder Fußballtempel, versetzte die in rot gekleideten Adressaten im schräg gegenüberliegenden Fanblock auf der Nordseite des Signal Iduna Parks prompt in Rage. Ausgestreckte Mittelfinger sowie im Lärm untergehendes Gebrüll waren die Folge.
Minuten zuvor hatte Uli Hoeneß, der in der fußballfanatischen Ruhrmetropole, die neben den gängigen Religionszugehörigkeiten konsensartig den hiesigen Verein als offizielle Glaubensrichtung erlaubt, verteufelt wird, eine Bierdusche abbekommen. Zwei Ereignisse, welche die Demütigung, die dem FC Bayern gegen Borussia Dortmund widerfahren waren, beispielhaft skizzieren. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, könnte man passenderweise eine altbekannte Redewendung diesbezüglich bemühen.
Tatsächlich zeigte sich beim 2:3 aus Münchner Sicht beim großen Erzrivalen, dass die jahrelange Dominanz derzeit gebrochen ist, reichte doch die "beste Leistung seit Wochen", wie die FCB-Protagonisten die Darbietung unisono im Anschluss in den Katakomben deklarierten, offensichtlich nicht aus, um den formstarken Schwarz-Gelben beizukommen.
Mats Hummels: "Kann sein, dass es einen anderen Meister gibt"
Eine Tatsache, die reflexartig die alles entscheidende Frage aufwarf: War der spektakulär eingefahrene Sieg der Dortmunder über eine wiedererstarkte Bayern-Mannschaft die endgültige Wachablösung im deutschen Fußball? Darunter macht man es ja quasi in Fußball-Deutschland gar nicht.
"Es kann natürlich sein, dass es in diesem Jahr mal wieder einen anderen Meister gibt. Ich finde, dass die Bezeichnung 'Wachablösung' sich aber immer so dauerhaft anhört", sagte Mats Hummels nach der Partie in der Mixed Zone, führte allerdings aus: "Wenn man sich die Tabelle anguckt und sieht, wie der BVB spielt, dann wäre es arg vermessen, zu sagen, dass es nicht so kommen könnte."
Auch Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge wurde auf das mögliche Ära-Ende angesprochen. "Dortmund ist Tabellenführer, das müssen wir akzeptieren und respektieren. Wir müssen jetzt versuchen, in den nächsten Wochen eine Serie zu starten", lautete das knappe Resümee des 63-Jährigen.
Doch, was ist in den vergangenen Wochen geschehen, was hat dazu geführt, dass dem Dauerdominator plötzlich der Verlust seiner Vormachtstellung droht? Und was lässt überhaupt darauf schließen, dass es sich bei der aktuellen Situation wirklich um die viel zitierte Wachablösung handeln könnte? Fragen, die nicht konkret beantwortet werden können, ohne gänzlich auf Spekulationen zu verzichten.
Die Top-5 der Bundesliga-Tabelle nach elf Spieltagen
Platz | Team | Sp. | Tore | Diff | Pkt. |
1. | Borussia Dortmund | 11 | 33:12 | 21 | 27 |
2. | Borussia Mönchengladbach | 11 | 26:13 | 13 | 23 |
3. | RB Leipzig | 11 | 22:9 | 13 | 22 |
4. | Eintracht Frankfurt | 11 | 26:13 | 13 | 20 |
5. | Bayern München | 11 | 20:14 | 6 | 20 |
Reicht der Kaders des FC Bayern München aus?
Konzentriert man sich zunächst auf die nackten Zahlen, die Statistikfetischisten in Wallung bringen dürften, zeigt sich: Der FC Bayern ist noch nie Meister geworden, sobald der zwischenzeitliche Rückstand nach elf Spieltagen in der Bundesliga-Geschichte sieben oder mehr Punkte betrug, erstmals nach sieben Jahren verließ der Rekordmeister den Platz nach einer Halbzeitführung als Verlierer. Ganze 18 Jahre liegt es gar zurück, dass eine doppelte Führung noch verspielt wurde.
Was liegt auf der Hand, wurde seit dem 1:1 gegen Augsburg, das gemeinhin als Geburtsstunde der Bayern-Krise gilt, schon bis ins kleinste Detail durchseziert? Da wäre die konservative Transferpolitik, gaben die Verantwortlichen im Sommer eben keinen Cent für neue Spieler aus, sondern verpflichteten lediglich den ablösefreien Leon Goretzka vom FC Schalke und holten den für ein Jahr an Hoffenheim verliehenen Serge Gnabry, der bis dato noch kein Spiel für die Bayern gemacht hatte, an die Isar. Renato Sanches kehrte aus Swansea zurück.
Verkauft wurden bekanntermaßen Arturo Vidal, Juan Bernat und Sebastian Rudy, Douglas Costa, schon in der vorherigen Spielzeit leihweise bei Juventus, wurde von der Alten Dame nach Gebrauch einer festgeschriebenen Kaufoption über 40 Millionen Euro, fix ins Piemont geholt. Schon gleich nach Amtsantritt musste sich Neu-Trainer Niko Kovac immer wieder den kritischen Fragen der Journalisten stellen.
Reicht der Kader aus, um auf drei Hochzeiten an vorderster Front zu kämpfen oder solle man nicht vielleicht doch noch einmal auf dem Transfermarkt tätig werden? Gebetsmühlenartig erklärte der Kroate, dass er mit seinem Spieler-Arsenal durchaus zufrieden sei, immerhin habe er 22 Weltklasse-Spieler, die allesamt ein Anrecht auf ausreichend Einsatzzeit hätten.
Das läuft aktuell schief beim FC Bayern
Nun schrumpfte die Auswahl derer, die als potenzielle Stammspieler infrage kommen, im Laufe der noch jungen Spielzeit zwischenzeitlich auf 17 Feldspieler. Weil sich mit Corentin Tolisso (Kreuzbandriss), Kingsley Coman (Syndesmosebandriss) gleich zwei wichtige Akteure in den ersten drei Wochen schwerwiegend verletzten, Rafinha (Innenbandverletzung) ebenfalls länger pausieren musste und mittlerweile auch noch Regisseur Thiago (Außenbandriss im Sprunggelenk) das namhafte Lazarett beehrt.
Auch wenn stets propagiert wird, das Potpourri an qualitativ hochwertigem Personal sei trotzdem ausreichend, sprechen die Leistungen zuletzt, die erste Halbzeit gegen die Borussen einmal ausgenommen, eine andere Sprache. Daran anknüpfend kommt zusätzlich die Altersstruktur regelmäßig auf den Tisch. Die beiden alternden Ikonen der Vorzeit, Arjen Robben und Franck Ribery allen voran, so verdient sie sich auch für den Verein gemacht haben, sind eben nicht mehr die von jedem gefürchtete Flügelzange, dürfen aber mangels Alternativen trotzdem regelmäßig ran.
Formtiefs von traditionell verlässlichen Arrivierten wie Thomas Müller, Jerome Boateng, Manuel Neuer und Hummels, erschweren das Ganze noch zusätzlich. Der Zahn der Zeit macht eben auch vor den Stadtgrenzen Münchens nicht Halt.
Als wäre das rein Sportliche nicht schon genug des Schlechten, plagt sich der FC Bayern seit geraumer Zeit mit etlichen Nebengeräuschen herum, die von der deutschen Presselandschaft gerne aufgegriffen werden, um die Notlage anhand von Spielerfrauen-Instagramposts, angeblichen Maulwürfen, die Kabineninterna an die Öffentlichkeit tragen und weiteren Unstimmigkeiten zu manifestieren.
Prominentestes Dauerbeispiel: James Rodriguez, der vor allem unter Jupp Heynckes groß aufspielte, zu den unumstrittenen Leistungsträgern zählte, kommt unter Kovac nicht zum Zuge. Dem Vernehmen nach sollen die beiden ein angespanntes Verhältnis pflegen. Grund genug, dass der hochveranlagte Kolumbianer angeblich mit einem Abgang aus der bayrischen Landeshauptstadt kokettiert.
BVB auch in der Saison 2017/18 mit komfortablem Vorsprung
Kumuliert führen ebenjene Probleme zu der misslichen Lage, in der sich der vormalige Klassenprimus derzeit befindet. Ob das aber gleich zur von vielen neutralen Fans gewünschten Wachablösung führt? Schwierig! Wenn ein Team sechs Jahre lang die Liga nach Belieben dominierte und plötzlich aufgrund von diversen Umständen der Musik hinterherläuft, überrascht die Talsohle, den BVB auf den metaphorischen Olymp zu hieven.
Allerdings gab es in der vergangenen Saison zu einem früheren Zeitpunkt eine ähnliche Situation. Damals führte der BVB die Tabelle mit fünf Punkten Vorsprung an, bis Jupp Heynckes in München aufschlug und die gewohnten Kräfteverhältnisse binnen weniger Wochen wiederherstellte. Auch, weil Dortmund mit einem Mal seinerseits in ein Tief fiel. Zuvor war ebenfalls von der großen Wachablösung die Rede.
Und was passiert, wenn Dortmund tatsächlich zweimal in Folge nicht punkten sollte, Borussia Mönchengladbach aber seinerseits zwei weitere Siege einfährt? Gibt es dann schon wieder die nächste Wachablösung oder würde man das Geschehen differenzierter einordnen, weil es ja Gladbach und nicht der ewige Dauerkontrahent aus dem Pott ist?
Die Schnelllebigkeit macht so viele Szenarien möglich, die allesamt nicht zu prophezeien sind. Vielleicht stehen am 6. April nächstes Jahres schon wieder die Bayern-Fans auf der Südtribüne und singt den BVB-Anhang mit hämischem Liedgut aus der Allianz Arena, vielleicht bekommt Hans-Joachim Watzke eine Bierdusche ab, um die Demütigung perfekt zu machen. Wer weiß es denn?