Natürlich wird Malaga für immer unauslöschlich einen festen Platz in der Geschichte von Borussia Dortmund haben. Die legendären 69 Sekunden, in denen der BVB am 9. April 2013 das Champions-League-Viertelfinale auf den allerletzten Metern drehte, verwandelten den Signal Iduna Park in ein Tollhaus.
Auch elf Jahre zuvor war dies der Fall. Damals schoss der eine Minute zuvor eingewechselte Ewerthon das 2:1 gegen Werder Bremen und sicherte der Borussia damit am letzten Spieltag die Meisterschaft 2002. Lauter war der Jubel im Westfalenstadion nur einmal: Im Mai 1986 beim Tor von Jürgen Wegmann in der 90. Minute, das den BVB ins Entscheidungsspiel der Relegation rettete.
Dass diese drei Ereignisse hervorstechen, ist angesichts ihrer Dramatik keine Überraschung: Es ging um Meisterschaft und Abstieg, die Nummer gegen Malaga war schlicht einmalig. Etwas handelsüblicher erscheint im Vergleich beim bloßen Blick darauf der Nikolaustag heute vor 30 Jahren.
Am 6. Dezember 1994 empfing der BVB die spanische Spitzenmannschaft Deportivo La Coruna zum Rückspiel im Achtelfinale des UEFA-Cups. Wie schon in der Runde zuvor gegen Slovan Bratislava hatte man das Hinspiel im Riazor verloren. Mit einem 0:1-Rückstand ging die Mannschaft von Ottmar Hitzfeld in die Partie. Eigentlich deutete damals nichts darauf hin, dass sie zum Malaga der 1990er-Jahre werden würde und Zeitzeugen bis heute Gänsehaut bekommen, wenn sie an den erlösenden Torjubel zurückdenken.
Edin Terzic verfolgt La-Coruna-Spiel auf der Südtribüne
Schon die Begegnung in Spanien verlief turbulent. Der frisch gebackene brasilianische Weltmeister Bebeto hatte nach 23 Minuten das Siegtor geschossen, doch es war Dortmunds Keeper Stefan Klos und einer Fehlentscheidung des Schweizer Unparteiischen Serge Muhmenthaler zu verdanken, der den Hausherren einen regulären Treffer wegen vermeintlicher Abseitsstellung verweigerte, dass es beim 0:1 blieb. Andererseits hatte auch der BVB durch Stéphane Chapuisat korrekt getroffen, auch da lag der Schiedsrichter mit seinem Abseitspfiff falsch.
In Dortmund war das Geschehen, das der ehemalige Chefcoach Edin Terzic damals übrigens von der Südtribüne aus verfolgte, gleichermaßen von Hektik und Intensität geprägt. Kapitän Michael Zorc stellte nach 50 Minuten den Gleichstand her, doch La Coruna blieb durch Lattentreffer von Fran (59.) und Julio Salinas (68.) brandgefährlich.
Kurz darauf brachte der in seinem üblichen und ellenlangen grauen Mantel gekleidete Hitzfeld den 18-jährigen Schüler Lars Ricken ins Spiel, Dortmunds heutigen Geschäftsführer Sport. Es war dessen fünftes Europacupspiel. Die Partie ging in die Verlängerung. In der 102. Minute trafen plötzlich Überraschung und Ernüchterung aufeinander: La Corunas Alfredo Santaelena war eine Flanke ungewollt derart abgerutscht, dass sie hinter Klos ins Tor flog.
Der große Auftritt von Lars Ricken und Bodo Schmidt
"Ich hatte das Spiel abgehakt, die Mannschaft hatte das Spiel abgehakt. Da war ja keine Power mehr drin", sagte Präsident Gerd Niebaum eine gute Stunde später. Auch zahlreiche Zuschauer verließen das Stadion unmittelbar nach dem 1:1, die Stimmung war am Boden. Aber nicht die Dortmunder Mannschaft. "Ich habe den Spielern schon oft gepredigt, dass selbst zwei Minuten vor dem Ende nichts entschieden und ein Wunder im Fußball immer möglich ist", würde Hitzfeld nach Schlusspfiff zu Protokoll geben.
Da noch die Auswärtstorregel galt, mussten in der verbleibenden Spielzeit also zwei Dortmunder Treffer für das Weiterkommen her. Karl-Heinz Riedle schien das nicht so auf dem Schirm zu haben, als er in der 116. Minute dank eines aggressiven Ballgewinns im Mittelfeld von Matthias Sammer und einer punktgenauen Flanke von Andreas Möller zum 2:1 einköpfte.
"Kalle hatte gar nicht registriert, dass wir noch ein Tor brauchen. Der wollte gerade zum Jubeln abdrehen und war dann einigermaßen überrascht, dass alle an ihm vorbeigelaufen sind, um den Ball aus dem Netz zu holen", erinnerte sich Ricken. Der Youngster sollte kurz darauf seinen großen Auftritt haben - zusammen mit Bodo Schmidt.
BVB-Held Ricken: "Den hätte ich nicht einen Millimeter anders treffen dürfen"
Der Abwehrspieler war gerade noch mit einem Gegenspieler aneinandergeraten, weil dieser bei einem Freistoß von Sammer keinen Abstand hielt. Sekunden später luchste er genau diesem Gegenspieler den Ball ab, wurschtelte sich an vier, fünf Leuten vorbei und brachte den Ball irgendwie zu Ricken.
"Mein Pass auf Lars war gewollt - sogar sehr gewollt! Selbst wenn mir das nur wenige aus der Mannschaft abgenommen haben", erklärte der eisenharte Verteidiger einst im SPOX-Interview. Schmidt fing schon zu Jubeln an, noch bevor Ricken zum Torabschluss ansetzte: "Das lag wohl einfach daran, dass Lars eben immer so kaltschnäuzig war."
Und zwar auch diesmal: Der angehende Abiturient donnerte den Ball in der 119. Minute mit einem saftigen Innenseitstoß an die Unterkante der Latte, von dort flog er zum entscheidenden 3:1 ins Gehäuse. Das Stadion explodierte, so wie es jahrelang zuvor nicht mehr explodiert war und danach nicht mehr explodieren würde. Nach dem Spiel sagte Ricken lapidar: "Ich wusste ungefähr, wo das Tor steht. Da hab ich mir gedacht, den hauste einfach mal rein!" Heute gibt er zu: "Den hätte ich nicht einen Millimeter anders treffen dürfen."
Lars Ricken erhält nach dem Spiel Spezialauftrag der Freundin
Der grenzenlose Jubel nahm kaum ein Ende. Selbst eher bedachte Charaktere waren vollkommen aus dem Häuschen. Hitzfeld philosophierte überschwänglich: "Wir waren klinisch fast tot, aber mit den allerletzten Herzschlägen haben wir uns aufgerappelt und ein anatomisches Wunder geschafft." Sammer verglich seine "unglaublichen Emotionen" gar mit der Geburt seiner Tochter Sarah.
"Es war ein purer Rausch", beschrieb Ricken rückblickend. "Ich hätte nie sagen können, wie oder mit wem ich danach gejubelt habe. Ich habe erst irgendwann im Fernsehen gesehen, dass Julio Cesar, der eher der nüchterne und sachliche Typ war, der erste war, der auf mir lag. Ich weiß nicht, ob der jemals nach einem Tor so ausgerastet ist."
Für den Mann des Abends hielten die Stunden nach Schlusspfiff allerdings nur wenig Ekstatisches bereit. Rickens damalige Freundin, der Fußball gänzlich gleichgültig war, hatte nach dessen Rückkehr in die eigenen vier Wände noch einen speziellen Auftrag für den neuen Helden der Stadt: "Sie forderte mich recht bestimmt auf, doch bitte das Geschirr abzutrocknen, das sie gerade gespült hatte. Ich merkte ganz vorsichtig an: 'Du, wir hatten gerade ein Spiel - und ich würde mir das gerne noch einmal im Fernsehen anschauen.' 'Ach, ja', sagte sie, 'ihr habt ja gespielt. Habt ihr denn gewonnen? Schön! Aber wenn du gespielt hast, musst du's doch nicht noch einmal sehen.'"
Bodo Schmidt und der Unfall mit dem Vereinsarzt
Die Dame setzte sich schließlich durch und Ricken stand tatsächlich nachts noch mit Geschirrtuch in der Küche. Tags darauf war wieder Pauken angesagt: "Ich bin am nächsten Morgen ganz normal zur Schule gegangen. Das war für mich überhaupt keine Frage."
Auch bei Vorlagengeber Schmidt passierte zu später Stunde noch Kurioses. "Voller Euphorie" fuhr er Dortmunds Vereinsarzt am Stadionparkplatz ins Auto. "'Scheißegal, das klären wir die Tage mal', sagte der nur", berichtete der heutige Physiotherapeut.
Ach ja: Dortmund schlug im Viertelfinale auch Lazio - wieder nach einer 0:1-Hinspielpleite und erneut mit dem entscheidenden Treffer vor heimischem Publikum in der 90. Minute durch Riedle. Im Halbfinale war zwar gegen Juventus Turin (2:2, 1:2) Endstation, doch nicht nur sollte gegen die Alte Dame rund zwei Jahre später die Revanche im Champions-League-Finale von München glücken ("Ricken - lupfen jetzt"), fast auf den Tag genau zwei Monate nach dem Ausscheiden gewann der BVB erstmals nach 32 Jahren wieder die Meisterschaft.
Niebaum hatte Recht: "Werden wir uns noch in 30 Jahren erinnern"
Dass aber ausgerechnet das Erlebnis La Coruna so deutlich im kollektiven Gedächtnis der Dortmunder Fans haften geblieben ist, ob man es nun live im Stadion oder zu Hause am TV-Gerät verfolgte, beweist einmal mehr die einende Kraft des Fußballs. Es sind Einschnitte in die Historie, die für einen Verein wie für seine Anhänger beinahe auf einer Stufe stehen wie der Meilenstein eines Titelgewinns.
Ricken bezeichnete La Coruna später als "Mutmacher für schwierige Zeiten". Wie zum Beispiel achtzehneinhalb Jahre später: "Gerade das Malaga-Spiel war der Moment, wo La Coruna allen nochmal in den Kopf gekommen ist."
Präsident Niebaum bewies also genau das richtige Näschen, als er damals stolz und siegestrunken verkündete: "Nie zuvor sah ich das Stadion so wackeln wie in diesem Moment. An dieses Spiel werden wir uns noch in 30 Jahren erinnern."
BVB: Die UEFA-Cup-Saison 1994/1995 von Borussia Dortmund
Runde | Gegner | Hinspiel | Rückspiel |
1. Runde | FC Motherwell | 1:0 (H) | 2:0 (A) |
2. Runde | Slovan Bratislava | 1:2 (A) | 3:0 (H) |
Achtelfinale | Deportivo La Coruna | 0:1 (A) | 3:1 n.V. (H) |
Viertelfinale | Lazio | 0:1 (A) | 2:0 (H) |
Halbfinale | Juventus Turin | 2:2 (A) | 1:2 (H) |