"Gewinnen kein Spiel an der Taktiktafel"

Von Interview: Benedikt Treuer
Arno Michels (l.) ist Thomas Tuchels rechte Hand
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SPOX: Sie richten Ihre Aufstellung und Spielweise von Spiel zu Spiel neu aus. Wie gehen Sie vor?

Michels: Zuerst analysiert man, wie der Gegner sein Spiel anlegt, was typische Angriffsmuster, wiedererkennbare Verhaltensweisen und wer die Schlüsselspieler sind. Daraus haben wir unsere defensive Systematik und Verantwortlichkeiten entwickelt. Welche Pässe werden bevorzugt attackiert? Wo wollen wir eine Balleroberung und wie läuft im Anschluss unser Umschaltspiel? Wichtig ist auch, festzulegen, welche Spieler an Kontern überhaupt beteiligt sein sollen. Damit ergeben sich für jeden Gegner andere Schwerpunkte, Formationen und Personalentscheidungen.

SPOX: Diese Flexibilität machte Sie fast schon zum Angstgegner der Bayern.

Michels: Es erfordert Mut und Geschick des Trainers, die Spieler überhaupt dazu zu bringen, sich darauf einzulassen. Übermächtigen Gegnern durch überraschende Ansätze Aufgaben zu stellen, um Zeit zu gewinnen und den Rhythmus des Gegners zu brechen - das kann dazu beitragen, dass am Ende eine Überraschung gelingt, die keiner so erwartet hat.

SPOX: Das klingt einfacher, als es ist.

Michels: Jede Idee hängt maßgeblich von der Umsetzung der Spieler ab. Was gespielt werden soll, entscheiden die Trainer. Wie es umgesetzt wird, liegt in der Verantwortung der Spieler. Wir gewinnen kein Spiel an der Tafel im Trainerbüro. Jedoch versorgen wir die Mannschaft mit Ideen und Ansätzen, wie es funktionieren könnte. Wenn sich das gute Gefühl dann im Spiel bestätigt, kann es auch gegen die Bayern funktionieren. Meiner Meinung nach ist man heute eher bereit, die Grundordnung sowohl von Spiel zu Spiel zu verändern als auch während der laufenden Partie schneller anzupassen. Dennoch kann man mit bekannten Ordnungen sehr erfolgreich sein.

SPOX: Nennen Sie ein Beispiel.

Michels: Gladbach. Das Team unter Lucien Favre ist sehr lange zusammen und zeigt im 4-4-2 stabile Verhaltensweisen in Offensive und Defensive. Besonders das Aufbauspiel ist sehr ausgeprägt und extrem strukturiert. Die Abläufe sind verinnerlicht. Das gibt dem Team Sicherheit und schafft Vertrauen in ihre Angriffszüge. Ihr Auftreten ist entsprechend dominant.

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SPOX: Gibt es Mannschaften, bei denen diese Analysen deutlich schwerer fallen?

Michels: Es gibt Gegner, bei denen man im Spiel gar nicht immer genug Zeit hat, große Überlegungen anzustellen. Borussia Dortmund ist so eine Mannschaft. Wir haben schon mit vielen verschiedenen Systematiken gegen sie gespielt. Dabei war es gegen den BVB gar nicht unbedingt entscheidend, welches System man einsetzte, sondern dass man im Kopf schnell ist. Gegen sie muss man also Mittel einsetzen, die schon funktionieren und ohne Nachdenken abrufbar sind.

SPOX: Wie bekommt man solche Automatismen so schnell in die Köpfe der Spieler?

Michels: Es braucht Wiederholungen und Verständnis für die Position: Regelmäßiges Training und das Aufzeigen am Videobild als Feedback sind wichtig. Und es braucht auf dem Platz die Flexibilität und Freiheit, individuell zu agieren, weil man nie wirklich weiß, wie der Gegner reagiert. Insofern sind Automatismen lediglich hilfreiche Krücken. Allerdings haben diese Abläufe auch den Nachteil, dass sich der Gegner besser darauf einstellen kann.

SPOX: Wird es also wieder schwieriger, ein Spiel über Taktik zu gewinnen?

Michels: Taktik beschreibt nur den Rahmen, in dem die Mannschaft agiert. Das Spiel wird aber maßgeblich von den Spielern mit ihren Verhaltensweisen gelebt, die mehr oder weniger aufeinander abgestimmt sind. Da nutzt es wenig bis nichts, wenn der Trainer zwar eine gute Idee hatte, diese aber nicht mit Leben gefüllt wurde - oder eine schlechte Idee hatte, die aber vom Team gut umgesetzt wurde. Auch den Zufall sollte man nicht unterschätzen. Die beste Taktik besteht für mich in der Fähigkeit eines Teams, auf alle Aufgaben flexibel reagieren zu können. Da gehört das tiefe Verteidigen vor dem eigenen Tor genauso dazu wie das Herausspielen zahlreicher Chancen.

SPOX: Gibt es demnach ein bestimmtes Anforderungsprofil, das Sie für Ihre nächste Mannschaft haben?

Michels: Wir haben in Mainz über fünf Jahre für einen wiedererkennbaren Spielstil gestanden. Darauf konnten sich die Fans und Verantwortlichen mit großer Sicherheit verlassen. Das sollte auch im neuen Klub möglich sein. Gleichzeitig sollten sich unsere ehrgeizigen Ambitionen mit denen des Vereins decken. Idealerweise geht es auch darum, um Titel mitzuspielen.

SPOX: Im Sommer laufen Ihre Verträge in Mainz offiziell aus. Wissen Sie schon, wohin es geht?

Michels: Nein, wir haben es noch nicht entschieden.

SPOX: Und verhandelt wurde auch noch nicht?

Michels: Wir sind aktuell in einer Phase, in der wir unsere Zukunft konkreter planen. Mehr gibt es zurzeit aber nicht zu vermelden.

SPOX: Auch nicht beim Thema Leipzig?

Michels: Nein, auch da nicht und Thomas hat dort auch noch kein Haus gekauft (lacht). Ich finde es katastrophal, wie in dieser Sache berichtet wurde. Das hatte 0,0 Prozent Wahrheitsgehalt, aber Hauptsache es wurde kolportiert.

SPOX: Wäre denn das Ausland eine Option?

Michels: Auch das können wir uns vorstellen, ja.

Seite 1: Michels über seinen Glücksfall, den Rücktritt und variable Spielsysteme

Seite 2: Michels über Abläufe, Schwierigkeiten bei der BVB-Analyse und RB Leipzig

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