Nico Rosberg drehte sich weg. Wie Daniel Ricciardo gab der WM-Führende gerade den TV-Teams im Fahrerlager des Yas Marina Circuit seine Einschätzung zum Qualifying in Abu Dhabi preis, als die GP2 ins vorletzte Rennen der Saison startete. Aufmerksam beobachteten der Deutsche und der Australier, wie die Nachwuchspiloten sich verhielten, wer Plätze verlor, wer sich nach vorne arbeitete, ob und wie es zu Kollisionen kam.
Ein paar Meter davon entfernt ein gänzlich anderes Bild. Lewis Hamilton blickte kurz über die Schulter, doch noch bevor sich das GP2-Feld gesetzt hatte, galt die volle Aufmerksamkeit des amtierenden Weltmeisters wieder den Fragen der Journalisten.
Das Bild war bezeichnend: Während sich Rosberg mit allem auseinandersetzt, macht Hamilton sein Ding. Ohne Rücksicht. Ohne Blick zur Seite. Nur auf sich konzentriert.
Vier Pole Positions bei den letzten vier Rennen. Zuletzt gelang ihm drei Mal der Sieg. In Abu Dhabi gab Rosberg nach dem Qualifying zu, er hätte die Rundenzeit von Hamilton niemals fahren können. "Das ist einfach Lewis. Das ist sein Talent, aggressiv zu sein, zu attackieren", sagte Niki Lauda.
Kam Hamilton in der Saison 2016 ohne technische Probleme oder Unfälle ins Ziel, gewann er jedes Mal - sofern er den Start auf die Reihe bekam.
Rosberg muss sich keinen Vorwurf gefallen lassen
Und doch muss sich Rosberg nicht den kleinsten Vorwurf gefallen lassen. Der Vergleich der beiden Mercedes-Fahrer zum legendären McLaren-Duo Ayrton Senna/Alain Prost kommt nicht von ungefähr.
Während Hamiltons Vorbild Senna jedes einzelne Rennen, jede einzelne Session unbedingt mit größtmöglichem Abstand gewinnen wollte, beschränkte sich Prost Zeit seiner aktiven Karriere darauf, den herausgefahrenen Punktevorsprung aufrechtzuerhalten.
Auch wenn Rosberg zuletzt immer wieder betonte, er würde jedes einzelne Rennen gewinnen wollen, auch wenn er für das Saisonfinale selbst nach der Niederlage im Qualifying auf der Yas-Insel den Tagessieg als Ziel ausgab: Die Wahrheit ist eine andere.
"Vielleicht kommt das letzte bisschen Risiko nicht aus ihm heraus, vielleicht unterbewusst. Er braucht es nicht", traf Toto Wolff bei Sky den Nagel auf den Kopf.
Rosberg seit Suzuka im Schongang unterwegs
Seit dem Sieg in Suzuka weiß Rosberg, dass er Weltmeister wird, wenn er jedes Rennen direkt hinter seinem Teamkollegen abschließt. Ihm Chancenlosigkeit zu unterstellen, wenn er sich bewusst hinten anstellt, ist falsch.
Rosberg fährt bedacht, überlegt, souverän. Sein erster WM-Titel, er wäre nicht unverdienter als ein weiterer für Hamilton. Vielleicht wäre er sogar höher einzuschätzen.
Schon nach dem ersten Saisonrennen hatte Rosberg die Führung in der Fahrerwertung inne. Sein Teamkollege sann auf Revanche, Rosberg fuhr seinen Stiefel runter. Zwei Starts versemmelte er, vier waren es bei Hamilton. Als der Brite die Führung übernahm, brach der Deutsche nicht ein. Stattdessen holte er sie sich mit einer Siegesserie zurück.
Seitdem zeigt Rosberg Nerven aus Stahl, indem er seinen Teamkollegen immer näher herankommen sieht und sich trotzdem diszipliniert. Brasilien ist das beste Beispiel: Bei jedem Restart betrug der Abstand mehrere Wagenlängen. Rosberg ging nicht den Hauch eines Risikos ein. Er hält sich zurück, weil er das große Ziel vor Augen behält, statt für einen Einzelsieg alles zu riskieren. Prost-Stil.
Red Bull und Ferrari können Rosberg gefährden
Das ultimative Ziel zu erreichen wird ein hartes Stück Arbeit, wenn es nach den Aussagen aller Beteiligter geht. "Die Longruns gestern sahen gut aus, morgen wird es Spaß machen", sagte Ricciardo über seine Chancen gegen die Mercedes. Er wolle den Titelkampf von Startplatz 3 aufregend machen: "Wenn der Sieg für mich möglich ist, wird es keine Zurückhaltung geben."
Den Vorteil der Strategie hat er auf seiner Seite. Ricciardo wird die von Reifenhersteller Pirelli errechnete Idealvariante fahren: 12 Runden auf Supersofts, dann zwei Stints von knapp über 20 Runden auf Softs.
"Wir dachten, sie würden ein Auto auf den Supersofts haben", räumte Motorsportdirektor Toto Wolff angesichts Red Bulls kompletter Offset-Strategie ein: "Laut unseren Algorithmen ist der Ultrasofte beim Start der bessere Reifen, weil man den Supersoft nicht wesentlich länger halten kann. Wir reden über ein paar Runden."
Wie Hamilton den WM-Führenden ausbremsen kann
Genau diese Runden könnten entscheidend sein. Selbst wenn Rosberg beim Start gegen Ricciardo und die Raketenstarts der lauernden Ferrari-Piloten Kimi Räikkönen und Sebastian Vettel die Oberhand behält, ist sein Weg zum ersten Weltmeistertitel also noch lange nicht geebnet.
Hamilton könnte ihn ausbremsen. Beim Start wäre das zu riskant. Doch ein paar Runden später nach dem ersten Stopp? Während Ricciardo und Verstappen vorne freie Bahn haben? Das Tempo ein wenig zu reduzieren, könnte die Red Bull an Rosberg vorbeibringen. Hamilton hätte als Führender das Recht des ersten Boxenstopps, Mercedes wird seine internen Regeln nicht anpassen.
"Wir können im letzten Rennen nicht wirklich eingreifen", gab der Österreicher zu: "Sie wissen, was wir unter sportlicher Fairness verstehen."
Villeneuve-Desaster als Warnung für Hamilton
Zumal der Versuch, Rosberg einzubremsen auch völlig nach hinten losgehen könnte. Das bekannteste Beispiel: Jacques Villeneuve fuhr beim Japan-GP 1997 direkt nach dem Start mutwillig mehrere Sekunden langsamer. Er wollte, dass Mika Häkkinen an Michael Schumacher vorbeigeht. Stattdessen überholte Eddie Irvine alle drei Piloten, Häkkinen kam am Ferrari nicht vorbei, der dafür beim Boxenstopp am kanadischen Williams-Piloten vorbeizog. Irvine machte Platz, Villeneuve wurde nur Fünfter und anschließend sogar disqualifiziert.
Red Bulls Entscheidung, beide Autos auf Supersofts an den Start gehen zu lassen, bereite ihm Unbehagen, gab Wolff zu. Damit nicht genug: "Genauso macht mir Ferraris Pace ein wenig Kopfschmerzen." Der Fokus liege darauf, den eigenen Piloten einen WM-Kampf auf der Strecke zu ermöglichen.
Es wäre vielleicht gar nicht schlecht, würde Rosberg zwischenzeitlich etwas zurückfallen. So könnte er seinen größten Kritikern beweisen, dass er sich seinen Titel erkämpfte. Nötig hat er es nicht.
Die Formel-1-Saison 2016 im Überblick