Zverevs Verwandlung zum Championspieler: "Es fühlt sich extrem gut an“

Von Jörg Allmeroth
Für Zverev geht es jetzt in den wohlverdienten Urlaub
© getty

Als Alexander Zverev noch gar keinen Ball bei der ATP-Weltmeisterschaft geschlagen hatte, sprach er in London beinahe lieber über die kommenden Ferien. Er sprach auch darüber, wie lang, auszehrend und zermürbend die Saison 2018 gewesen sei. Und er sprach darüber, "noch mal Gas geben zu wollen, das Beste zu versuchen hier." Es klang nicht übermäßig überzeugend, dieses eher pflichtschuldige Statement von Willensanstrengung. Es hörte sich eher so an, als sei Zverev darauf aus, eine Serie von Niederlagen vermeiden zu wollen.

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Doch dann begann langsam, aber sicher, und schließlich unaufhaltsam, was als mittelschweres Wunder von London gedeutet werden kann. Zverev gewann sein erstes Vorrundenmatch mühselig, beinahe unverdient gegen den Kroaten Marin Cilic, kassierte dann eine schroffe Abfuhr von Novak Djokovic, ehe er seinen Freund John Isner zum Halbfinaleinzug besiegte.

Zverev hatte auf einmal Kräfte und Ressourcen in sich entdeckt, von denen er selbst nicht wusste, dass sie da waren. "Es war eine Wendung, eine Story, die ich so nicht erwartet hatte", sagte Zverev.

Auf den Spuren von Boris Becker

Umso mehr, da ihm auf der Zielgeraden im Veranstaltungstheater der O2-Arena noch etwas gelang, was keinem anderen Profispieler zuvor gelungen war: Nämlich die Herren Federer und Djokovic bei diesem Championat der Besten hintereinander zu besiegen, im Halbfinale und Endspiel, zwei der prägendsten und erfolgreichsten Figuren der Tennisgeschichte überhaupt.

Es war eine beckereske Verblüffung, eine Sensation zum Kopfschütteln, wie sie der Mann immer mal wieder auf die Centre Courts gezaubert hatte, der vor 23 Jahren als letzter Deutscher dieses herausgehobene Elite-Turnier gewonnen hatte, damals noch in der Frankfurter Festhalle. "Es fühlt sich extrem gut an", sagte Zverev, der Erbe der Weltmeister Becker und Stich, am Abend des Triumphs, "das Gefühl jetzt, das ist kaum zu beschreiben."

Erhöhtes Risiko in den entscheidenden Phasen

Zverev, oft und gern als Möchtegern-Superstar gegeißelt, gewann seinen mit Abstand größten Karrieretitel, weil er sich wie nie zuvor von sich selbst weg bewegt hatte. Vom bisherigen Zverev, vom Zverev, der bei den Big Points, bei den großen Matches, zu zögerlich, zu zaudernd und auch zu verkrampft war.

Zverev tat nun aber in London erstmals etwas, das die Besten von den sehr Guten unterscheidet: Er erhöhte das Risiko im Augenblick der Herausforderung enorm, er nahm sein Schicksal couragiert und mutig in die Hand - ohne dabei Kontrolle und Präzision zu verlieren. Zverev hatte wie nie zuvor die Mentalität eines Champions, und dieses neue Format brauchte es auch, um Leute wie Federer und Djokovic niederzuringen, ein Duo, das es zusammen auf 34 Grand Slam-Titel und elf WM-Pokale bringt.

Der Aufschlag als wichtigste Waffe

Auch dies war noch entscheidend für Zverevs Coup: Mit unvergleichlicher Konstanz und Konzentration setzte der 1,98-Meter-Riese seinen Aufschlag als Waffe ein, im Endspiel gegen Djokovic brachte er im ersten Satz sage und schreibe 88 Prozent des pfeilschnellen Service ins Feld.

Erst Ivan Lendl, der neue Mann an seiner Seite, brachte Zverev noch einmal die Selbstverständlichkeit ins Bewusstsein, dass seine Matches ganz entscheidend vom eigenen, starken Aufschlag bestimmt werden müssen. "Das war der absolute Schwerpunkt unserer Arbeit bisher", so Zverev, dessen ganzes Spiel eine viel aggressivere, vorwärtsgewandtere Note hatte. Gegen die Großen und Starken, das war die Devise, konnte nicht ausreichen, nur brav mitzuspielen. Sondern aktiv den Erfolg zu forcieren.

Zverev schaffte auch etwas, was ihm bei vielen enttäuschenden Grand Slam-Auftritten zuvor misslungen war: Mit seinen Kräften sparsam und effizient umzugehen, noch Energie für die wirklich bedeutenden Matches tief im Turnier zu haben. "Dieses Turnier ist kompliziert für alle Spieler, weil es am Ende einer langen Saison steht. Und alle schon ein wenig auf dem letzten Rad fahren", sagte Tim Henman, der ehemalige englische Weltklassemann, "du kannst hier nur gewinnen, wenn du nicht Raubbau an deinem Körper betreibst."

Der Druck wird nicht kleiner werden

Zverev hatte das letzte, machtvolle Wort in einer Saison, die in der Weltrangliste noch mit dem Gewohnten, Vertrauten endete. Auf den ersten drei Plätzen der Hackordnung stehen wie vor sieben Jahren Djokovic, Nadal und Federer, sie sind alle aber nun schon jenseits der Dreißig. Im Gegensatz zu Zverev, der sich mit seinen 21 Jahren mit neuer Autorität als der Stärkste der ganz jungen Generation etabliert hat.

Der Druck auf den Hamburger mit Wohnsitz Monte Carlo wird nicht kleiner werden, jetzt als Weltmeister, er wird schon bei den Australian Open im Januar unter genauester Beobachtung stehen. Immer mit der Frage: Kann er nun auch bei den Grand Slam-Feierlichkeiten den lang ersehnten Durchbruch schaffen, gegen den Widerstand der älteren Herrschaften?

Zverev will den Urlaub genießen

"Halt", sagte der Weltmeister dazu, "noch gewinnen die anderen immer die Grand Slams, wirklich immer. Wir Jungen versuchen alles, um das zu ändern. Aber 2018 hat das noch nicht geklappt." Und, wird es 2019 anders? Zverev wollte da noch nicht groß überlegen. "Darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken", sagte er, "das Einzige, was mich jetzt interessiert, sind schöne Urlaubstage."

Aber wie das so ist in der von Zverev "absurd" genannten Tennisrealität eines übervollen Terminkalenders: Die Ferien sind knapp bemessen, das Abschalten vom Turnierstress, auch der entspannte Genuss dieses ersten, massiven Titelcoups. Am Montag ging sein Trip in die tennislose Zeit los, zwei Wochen in Dubai und auf den Malediven. "Und am 2. Dezember, 9 Uhr in Monte Carlo, stehe ich wieder bereit zum Trainieren", so Zverev.

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