Es hätte unglücklicher nicht laufen können. Gegenspieler Chad Williams fing einen Touchdown-Pass im vierten Viertel beim letztlich knappen 20:17-Sieg der Seahawks über die Cardinals in Woche 4 der Saison 2018. Thomas versuchte noch zu retten, was nicht mehr zu retten war, und stolperte unglücklich über den Receiver. Das Ergebnis: Ein Beinbruch und das Saison-Aus für den Star-Safety.
Es sollte das letzte Play einer herausragenden Karriere für Thomas in Diensten der Seahawks sein. Bis dahin hatte er es auf sechs Pro-Bowl-Einladungen, drei All-Pro-Teams, 28 Interceptions und einen Super-Bowl-Ring gebracht. Das letzte Bild von Thomas in einer Seahawks-Uniform wird ein anderes sein: Der ausgestreckte Mittelfinger Richtung eigenes Team auf dem Buggy, der den gefallenen Helden in die Kabine fährt.
Der Finger als Ausdruck des Frusts. Nicht gegenüber seiner Teamkollegen, vielmehr in Richtung der Verantwortlichen des Teams - zuvorderst Pete Carroll, aber auch General Manager John Schneider. Beide hatten sich zuvor geweigert, Thomas, in dessen letztem Vertragsjahr, einen neuen Vertrag zu geben. Dem Vernehmen nach wollte das einstige Herzstück der "Legion of Boom" - und deren letzter Überlebender im Kader - den Safety-Rekordvertrag von Eric Berry aus dem Jahr 2017 (6 Jahre/78 Millionen Dollar) toppen. Zu viel für die Seahawks, die ohnehin schon signifikanten Cap Space in die Safety-Position gesteckt hatten.
Nun ist Thomas Free Agent und das Ende der Legion of Boom besiegelt. Zuvor schon waren Brandon Browner, Richard Sherman und schließlich Kam Chancellor nach und nach aufgrund von finanziellen oder gesundheitlichen Gründen von Bord gegangen. Mit Thomas geht nun auch der letzte Part dieser legendären Secondary, die den Seahawks einen Platz in den Geschichtsbüchern und ihre erste Lombardi Trophy bescherte.
Mit Thomas geht ein Leader, einer, der vor allem durch seine Taten überzeugte. Einer, dessen Einstellung dem Ideal entspricht, das Carroll mit seinem ganzen Schaffen versucht, vorzuleben. In einem Artikel bei The Athletic ist überliefert, was Thomas täglich ins Team brachte. "Earl hat nie wirklich mit irgendwem bei Walkthroughs gesprochen", berichtete Defensive End Cliff Avril: "Er war immer voll konzentriert. Er war der einzige Typ, der in Schweiß ausbrach."
Earl Thomas: Hohe Intensität selbst beim Walkthrough
Das führte sogar dazu, dass Thomas Avril einst bei einem Walkthrough zusammenstauchte, weil dieser nicht die nötige Intensität an den Tag legte, sich nicht schnell genug bewegte - bei einem Walkthrough, bei dem die Betonung auf "Walk" liegt. Doch diese Episode brachte beide am Ende einander näher: "Das hat so ein wenig das Eis gebrochen für uns beide und wir sind danach richtig gute Freunde geworden."
Apropos Walkthroughs: Selbstredend trug Thomas als einziger Spieler - zumindest in Seattle - einen Mundschutz bei dieser eher theoretischen Form des Trainings, bei dem es nicht zum Kontakt kommt. Sicher ist sicher.
Thomas redet normalerweise wenig, lässt Taten folgen. Doch bei seiner Unterschrift unter einen neuen Vertrag im Jahr 2014 ließ er auf der Pressekonferenz wissen, dass er die Seahawks für eine "ehrwürdige Organisation" hielt. Gleichzeitig aber sagte er auch: "Ich kenne meinen Wert." Worte, die spätestens über den Sommer 2018 seinen Taten Hintergrund verliehen.
Thomas, der in der Regel bei jedem Training mehr Einsatz zeigt als so manch anderer im Spiel, blieb dem Training fern. Er kam weder zu OTAs, noch zu den mandatorischen Minicamps. Er nahm auch nicht am Trainingscamp oder der Preseason teil. Alles, um klarzumachen, dass er entweder einen neuen Vertrag vor Saisonstart oder alternativ einen Trade verlangte.
Seattle Seahawks: Earl Thomas kennt seinen Wert
Thomas wusste nicht nur um seinen Wert, er wusste auch um das Risiko, das dieser Sport birgt. Speziell in Situationen wie seiner, nur ein Jahr von der Free Agency entfernt. Eine schwere Verletzung könnte alles verändern, könnte ihn um sehr viel Geld bringen. Das beste Beispiel für diesen Worst Case ist sicherlich Alex Smith, der aus dessen Sicht glücklicherweise eben diesen neuen Vertrag bei den Redskins bekommen hatte, bevor es zu seiner Horror-Verletzung kam. Selbst wenn er nie mehr aufs Footballfeld zurückkehren würde, ist er wenigstens finanziell abgesichert.
Thomas fürchtete genau dies und wurde schließlich bestätigt. Folglich seine Mittelfinger-Geste Richtung Seahawks-Organisation.
Im Frühjahr 2019 nun ist das Tischtuch zwischen Thomas und den Seahawks freilich zerschnitten, keine Frage. Doch der vollständig genesene Thomas steht dennoch vor einer ungewissen Zukunft. Er hat zwar die Free Agency erreicht, aber diese könnte mitunter weniger rosig daherkommen als einst vermutet.
Thomas ist zu haben und sein erklärtes Wunschteam des Vorjahres, die Cowboys, hätten durchaus Platz für ihn. Die Safety-Position ist nicht unbedingt hochklassig besetzt bei America's Team, obgleich sich Jeff Heath und Xavier Woods durchaus gegen Ende der letzten Saison gesteigert haben. Thomas wäre jedoch zweifelsohne ein signifikantes Upgrade. Und: Dallas verfügt über rund 45 Millionen Dollar an Cap Space.
Doch so verlockend sich das anhört, erwartet niemand einen wirklichen "Splash" der Cowboys in der Free Agency. Eine Cowboys-nahe Quelle wird von The Athletic mit den Worten zitiert: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir nach mehr als Schnäppchen suchen werden."
Dallas Cowboys: Eigengewächse stehen vor neuen Verträgen
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die hochkarätigen Eigengewächse stehen vor Vertragsverlängerungen, speziell Defensive End DeMarcus Lawrence und Quarterback Dak Prescott sind hier die Kandidaten, obgleich Lawrence auch zum zweiten Mal den Franchise Tag erhalten könnte, was ebenfalls richtig teuer würde. Und darüber hinaus stehen mit Cornerback Byron Jones, Running Back Zeke Elliott und Wide Receiver Amari Cooper gleich drei weitere Youngster in den Startlöchern, was baldige neue Deals betrifft.
Unterm Strich dürfte Thomas nicht bereit sein, als Schnäppchen herzuleiten. Schließlich sagte er einst über sich selbst: "Wirklich und wahrhaftig weiß ich, dass es irgendwo in meiner Abstammung Kriegerblut gab. Das muss so sein, denn ich bin ein Krieger, Bro." Zudem formulierte Thomas schon früh in seiner Karriere ein nicht unbedingt bescheidenes Ziel: "Ich versuche der verdammt nochmal beste Free Safety aller Zeiten zu sein, Bro."
Doch wo geht es für den selbsternannten Krieger nun weiter? Wenn das Frühjahr 2019 eines im Überfluss hat, dann sind es Safetys. Ganz oben auf der Liste stehen dort Landon Collins (Giants) und LaMarcus Joyner (Rams), die allerdings durchaus auch von ihren aktuellen Teams gehalten werden könnten - und sei es via Franchise Tag. Doch danach könnte sich Thomas legitim einordnen - neben Tyrann Mathieu (Texans) und Adrian Amos (Bears) etwa.
NFL Free Agency 2019: Große Konkurrenz auf Safety-Markt
Was jedoch gegen Thomas spricht, sind sein Alter - 29 - und seine Verletzungshistorie der letzten drei Jahre. Hatte Thomas in seinen ersten sechs NFL-Jahren noch kein Spiel verpasst, waren es in den Spielzeiten 2016 bis 2018 deren 19 - in der Summe mehr als eine ganze Saison!
Das Alter macht vor niemandem halt, doch dass Thomas durchaus noch einiges im Tank hat, stellte er im Vorjahr nachhaltig unter Beweis: In nur vier Spielen kam er auf drei Interceptions - im Übrigen fing er in jedem Jahr seiner Karriere mindestens eine Interception - und fünf Pass Breakups.
Seine Wunden sind ausgeheilt, sein Mut ungebrochen. Der Krieger ist bereit für die nächste Schlacht.