Ein Jahr des Umbruchs und voller Ungewissheit. Das Ende der Legion of Boom. Das Ende einer Ära mit einem Head Coach, der wohl vor dem Abschied steht.
All das wurde vor der Saison proklamiert rundum die Seattle Seahawks, die seither eine beeindruckende Entwicklung genommen haben. Schon eine Woche vor Saisonende stehen sie sicher in den Playoffs und wirken wie ein Team, gegen das man keineswegs würde spielen wollen. Obendrein wurde der Vertrag mit Head Coach Pete Carroll bis Ende 2021 verlängert.
Doch wie war dieser Turnaround überhaupt möglich? Die Seahawks verloren alle Spiele der Preseason und auch in die Regular Season starteten sie mit zwei Pleiten, standen zudem nach neun Spielen mit einer 4-5-Bilanz da.
Die Wende kam dann erst gegen die Green Bay Packers in Week 11. Plötzlich schien das Team durch die Bank seine Identität gefunden zu haben. Die Offensive Line zeigte sich plötzlich insgesamt effektiver und das Play-Calling hatte sich verändert. Plötzlich kehrte das Team an seine Anfänge unter Carroll zurück und verlegte sich vordergründig aufs Laufspiel.
Gegen Green Bay lief man für 173 Yards (35 CAR), angeführt von Chris Carsons 83 Yards (TD). Gleichzeitig schaffte die Defense, die bis dahin auch eher wechselhaft unterwegs war, fünf Sacks gegen Aaron Rodgers, der wie Russell Wilson ziemlich gut zu Fuß und daher nicht leicht zu Boden zu bekommen ist.
Seahawks: Fünf Sacks gegen Aaron Rodgers als Zeichen
Was war passiert? Speziell seit dieser Partie scheint sich die Secondary um die Cornerbacks Shaquill Griffin und Tre Flowers III und die Safeties Tedric Thompson und Bradley McDougald gefunden zu haben und spielt eine viel engere Coverage als zuvor. Die fünf Sacks gegen Rodgers waren in erster Linie Coverage-Sacks, da die Secondary Rodgers keine Passing Windows eröffnete, sodass dieser den Ball länger halten musste, als ihm seine Blocker den Rücken freihalten konnten.
Der 27:24-Erfolg über die Packers war der Beginn einer Phase, in der die Seahawks fünf von sechs Spielen gewannen. Der wohl beeindruckendste Erfolg darunter war das erdrückende 21:7 über die Minnesota Vikings. Die Seahawks liefen für 214 Yards auf 42 Carries, während Wilson nur 20 Passversuche unternahm (10/20, 72 YDS). Die Vikings wiederum wurden bei 276 Yards insgesamt gehalten.
Zwischendrin lag zwar auch die peinliche Overtime-Pleite bei den unterirdischen San Francisco 49ers in Week 15, diese hat Seattle mit dem jüngsten Statement-Sieg über die Kansas City Chiefs (38:31) jedoch mit Nachhalt wettgemacht.
Auch hier zeigte sich der offensive Blueprint des Erfolges: 43 Laufversuche (210 YDS) gegenüber nur 29 Pässen (18/29, 217 YDS). Allerdings war es dieses Mal Wilson, der mit drei Touchdown-Pässen die entscheidenden Nadelstiche gesetzt hatte. Defensiv wiederum gelang nur ein Sack, dafür aber elf QB-Hits gegen Patrick Mahomes, der extrem schwer zu fassen ist.
Im Vergleich zum Vorjahr hat sich in erster Linie eines verändert: Die Offense setzt nun wieder vermehrt aufs Laufspiel. Letzte Saison verlief eher nach dem Motto: "Wilson or Bust." Die Offensive Line war ein Scherbenhaufen, das Laufspiel funktionierte auch als Konsequenz daraus überhaupt nicht - und es hatte sich auch kein legitimer Nachfolger für Marshawn Lynch gefunden, sodass zahlreiche Running Backs wie Christine Michael, Thomas Rawls oder Rookie Chris Carson vergeblich ausprobiert wurden.
Seahawks 2017: Russell Wilson rannte um sein Leben
Alles lief nur über das Improvisationstalent von Wilson, der viel zu häufig buchstäblich um sein Leben rannte.
Dies war ein Zustand, der so nicht aufrechtzuerhalten war. Das erkannte auch das Front Office der Seahawks, das nach der insgesamt enttäuschenden Saison 2017, als erstmals seit 2011 die Playoffs verpasst wurden, Konsequenzen zog.
Offensive Coordinator Darrell Bevell, O-Line Coach Tom Cable, Defensive Coordinator Kris Richard sowie Linebackers Coach Michael Barrow wurden allesamt entlassen. Dafür kamen OC Brian Shottenheimer, DC Ken Norton Jr. sowie O-Line Coach Mike Solari neu dazu.
Zahlentechnisch führte dies dazu, dass die Seahawks sich offensiv merklich verbesserten. Waren sie letzte Saison noch auf Rang 14 in Team Offense (2 Prozent DVOA), belegen sie diese Saison Rang 8 (9,5 Prozent DVOA). Der Hauptgrund für diesen Anstieg ist freilich das Laufspiel: 3,1 Prozent DVOA gegen -12,1 Prozent im Vorjahr.
Defensiv wiederum verschlechterte sich das Team von -3,8 Prozent DVOA und Rang 13 auf 1 Prozent und Rang 19 in dieser Spielzeit. Allerdings wären die Zahlen wohl durch die Bank noch deutlich besser, wenn man den schwachen Saisonstart rausrechnet.
Seattle Seahawks: Klare Hierarchie im Run Game
Zudem kristallisierte sich in dieser Spielzeit eine klarere Hierarchie im Laufspiel heraus. Die Nummer 1 ist der klar verbesserte Chris Carson (112 DYAR, Rang 14) mit 1029 Yards (228 CAR) und 8 Touchdowns, während sein Backup Mike Davis (55 DYAR, Rang 24) das Beste aus seinen Möglichkeiten macht (470 YDS/105 CAR/3 TD). Rookie Rashaad Penny mag zwar nicht so wahnsinnig viel Einsatzzeit sehen, präsentierte sich aber auch äußerst effektiv, wenn er ran durfte (65 DYAR/413 YDS/81 CAR/2 TD).
Das führt in erster Linie dazu, dass Druck von den Schultern von Wilson genommen wird. Er muss weniger Wunderdinge vollbringen und braucht auch nicht mehr der beste Runner im Team zu sein. Und wenn er doch gefordert ist, kann er sich auf seine Lieblingsreceiver Tyler Lockett (415 DYAR/Rang 3) und Doug Baldwin (121 DYAR/Rang 33) verlassen, die beide explosiv sind und Pässe mit über 70-prozentiger Zuverlässigkeit fangen.
Unterm Strich führte also eine Neuordnung des Trainerstabs samt Besinnung auf bewährte Mittel aus der Vergangenheit in der Offensive - der Fokus aufs Laufspiel - sowie eine wohl auch durch Erfahrung verbesserte Coverage, die auch den Pass Rush befeuerte, dazu, dass die Seahawks wieder ernstgenommen werden.
Doch wie geht es nun weiter? Würden die Playoffs heute beginnen, wären sie der Nummer-5-Seed als erste Wildcard der NFC. Der Gegner dann wären die Dallas Cowboys, die sich de facto nicht mehr verbessern können und Vierter der NFC bleiben.
Es wäre das Rematch von Week 3, als die Seahawks daheim 24:13 gewannen und ihren ersten Saisonsieg einfuhren. Damals noch war das Laufspiel nicht ganz so effektiv (2,9 Yards pro Carry), sollte aber ausreichen, da sich die Cowboys drei Turnovers leisteten. Zwei davon waren Interceptions durch Safety Earl Thomas, dem letzten Überbleibsel der Legion of Boom. Wenig später brach er sich das Bein, sodass die legendäre Secondary von Anfang des Jahrzehnts nun komplett Geschichte ist.
NFL Playoffs 2018: Cowboys treffen wohl auf Seahawks
Gegen die Cowboys, die damals auch noch nicht in Tritt gekommen waren und noch nicht ihren späteren Top-Receiver Amari Cooper aus Oakland importiert hatten, gelangen den Seahawks zudem zehn QB-Hits und fünf Sacks.
Freilich hat sich auf beiden Seiten seither einiges getan. Und das Spiel fände nicht vorm 12. Mann, sondern in "Jerry World" statt, was auch ein großer Faktor sein könnte. Aber immerhin wüssten die Cowboys, dass sie gegen eine sicherlich schwächere Version der Seahawks schon einmal in dieser Saison verloren haben.
Insgesamt blickt jedoch jeder Gegner auf ein Team, das über ein in letzter Zeit sehr effektives Laufspiel verfügt, dazu einen brandgefährlichen Quarterback samt Receiver hat, die schwer zu covern sind und eine Defense aufs Feld schickt, die an guten Tagen großen Schaden anrichten kann. Zudem ist Coach Carrolls Playoff-Resümee mit einem Ring und zwei Trips zum ganz großen Spiel nicht zu verachten.
Von einem Team, das im Grunde vor einem Rebuild stand und dessen Coach gewissermaßen auf seine letzte Reise geschickt wurde, haben sich die Seahawks nun wieder zu einer Truppe entwickelt, die durchaus Respekt verdient. Sie sind extrem unangenehm zu spielen und gehören zu den Teams, die man aktuell doch gerne vermeiden würde.
Nach einem Jahr zum Vergessen 2017 sind sie wieder zurück. Diese Seahawks sind wieder relevant und dürften bei jedem Gegner für Sorgenfalten sorgen.