Gerade mal ein Jahr ist es her, dass Calais Campbell sich für seine Entscheidung, die Arizona Cardinals in der Free Agency zu verlassen und sich den Jacksonville Jaguars anzuschließen, öffentlich rechtfertigen musste. Campbell ginge es wohl nur ums Geld, unkte so mancher Kritiker. Der Erfolg spiele für ihn offensichtlich keine Rolle.
"Ich glaube, der Rest der Welt sieht Jacksonville anders, als ich es tue", erklärte Campbell damals. "Ich glaube, Jacksonville ist nah dran." Angesichts der miesen Saisonbilanz von drei Siegen und 13 Niederlagen im Vorjahr ließen Spötter nach diesen Aussagen Campbells nicht lange auf sich warten. Doch: Rund zwölf Monate später lacht niemand mehr.
Eine historisch gute Defense
Die Jaguars waren in der letzten Saison nicht mehr "nah dran", ihre Defense gewann Spiele nicht nur, sie dominierte sie. Campbell schlug, ebenso wie Cornerback AJ Bouye, als Neuzugang ein wie eine Bombe. 21 Interceptions (ligaweit Platz zwei) und 55 Sacks (ebenfalls Platz zwei) verdeutlichen die Aggressivität der Unit eindrucksvoll, mit einem Passer Rating von 68,5 ließ Jacksonville das mit Abstand niedrigste der gesamten NFL zu. Zur Veranschaulichung: Die in dieser Kategorie viertplatzierten Los Angeles Chargers ließen fast 10 Punkte mehr zu.
Laut "Football Outsiders" stellten die Jaguars nicht nur die beste Defense der Liga, die Verteidigung gegen den Pass war demnach sogar historisch gut. Ein schier unglaublicher Fakt: In der eigentlich vom Pass dominierten NFL wäre ein Rushing-Versuch 2017 gegen jede (!) Franchise im Durchschnitt erfolgsversprechender gewesen als ein Pass-Versuch gegen Campbell, Bouye, Jalen Ramsey und Co.
Robinson als vermeintlich fehlendes Puzzleteil
Innerhalb eines Jahres hatten sich die Jaguars also von einer jahrelangen Lachnummer in eines der heißesten Teams der Liga verwandelt. Nach dem knappen Aus im AFC Championship Game schienen die Weichen für die Zukunft gestellt, die Prioritäten für die Offseason eigentlich klar. Was dem Team zum ganz großen Erfolg noch zu fehlen schien, war eine variablere Offense. Es brauchte ein stärkeres Passing-Game, folglich also einen besseren Quarterback und einen echten Nummer-eins-Receiver.
Für viele Beobachter hatten die Jaguars nicht nur schon das Rezept für eine erfolgreiche Offseason, sie saßen sogar schon am gedeckten Tisch. Denn: Mit Allen Robinson, der die komplette Saison 2017 aufgrund eines Kreuzbandrisses verletzungsbedingt verpasste, hatte man den noch fehlenden X-Receiver bereits im Team. Durch seine Größe und seinen Speed stellt Robinson eine echte Downfield-Waffe dar, die obendrein im Eins-gegen-eins Duelle für sich gewinnen kann. Genau der Typ Spieler also, um die Acht-Mann-Boxen, von denen Jacksonville im Vorjahr so viele gesehen hatte wie kein anderes Team, zu bestrafen.
Darüber hinaus schienen die Jaguars in einer exzellenten Position, um sich nicht nur relativ schmerzfrei von Quarterback Blake Bortles zu trennen, sondern gleichzeitig direkt in das Rennen um einen besseren Signal Caller einzusteigen. Kirk Cousins? Case Keenum? Alex Smith? Sam Bradford? Teddy Bridgewater? Dieser Versuchung, eine beinahe runderneurte Passing-Offense aufzubauen, würden die Jaguars einfach nicht widerstehen können. Richtig? Falsch!
Eine Offseason voller Überraschungen
Was folgte, war eine Offseason Jacksonvilles, die vieles war, nur eines nicht: erwartbar. Anstatt ins Wettbieten um Cousins einzusteigen oder zumindest einen fähigen Konkurrenten zu Bortles zu verpflichten, verlängerte die Franchise den Vertrag mit ihrem Quarterback noch vor Beginn der Free Agency um weitere drei Jahre und band sich so zumindest mittelfristig an dessen Qualitäten. Anstatt Robinson per Vertragsverlängerung oder Franchise Tag zu halten, ließ man diesen einen moderaten Deal mit den Chicago Bears unterzeichnen und verpflichtete stattdessen mit Andrew Norwell den teuersten Interior Offensive Lineman der diesjährigen Free Agency. Und anstatt im Draft eine neue Waffe für das Passing Game ins Auge zu nehmen, entschied man sich mit Taven Bryan für einen Defensive Tackle, der der bereits glänzend besetzten Defensive Line weitere Tiefe verleiht.
Haben die Jaguars den Sommer also in den Sand gesetzt? Haben sie auf die falsche Taktik, die falsche Philosophie vertraut? Das wird sich zeigen. Haben sie auf eine ungewöhnliche Strategie gebaut? In jedem Fall.
Während nahezu die gesamte Liga weiter mehr und mehr dem Passing-Trend verfällt, setzen General Manager David Caldwell und Executive Vice President Tom Coughlin offenbar auf das genaue Gegenteil. Statt eines populären Quarterbacks oder eines Star-Receivers ist ein Guard der dicke Fisch des diesjährigen Sommers in Jacksonville geworden. Damit steht Andrew Norwell sinnbildlich für die neue Philosophie in Florida.
Dominanz im Run Game als Ziel
Bereits in der vergangenen Saison legten die Jaguars den Fokus so stark auf das Run Game wie kein anderes Team der NFL. 527 Runs waren ebenso Ligaspitze wie 2262 Rushing Yards. Mit 1,2 Yards before Contact per Carry rangierte Jacksonville allerdings unter den schwächeren Teams der NFL. Diese Zahl in der kommenden Saison zu erhöhen, dürfte zu den Hauptaufgaben Norwells zählen.
Mit Brandon Linder und Norwell verfügt Jacksonville ab sofort über eines der ligaweit besten Interior-Line-Duos. Dass beide zum Zeitpunkt ihrer Vertragsunterzeichnung zu Topverdienern auf ihrer Position avancierten, ist kein Zufall. Mit Cam Robinson kommt zudem noch ein hochathletischer Left Tackle dazu, der in seiner Rookie-Saison zwar erwartungsgemäß Probleme in der Pass Protection offenbarte, allerdings alles mitbringt, um zu einem dominanten Run Blocker zu werden. Es dürfte niemanden überraschen, wenn die Jaguars in kritischen Situationen in der kommenden Saison den Ball hinter ihrem Trio auf der linken Seite der Offensive Line laufen.
Große Fragezeichen in der Offense bleiben
So vielversprechend die Kombination aus den dominanten Interior Offensive Linemen sowie Power Back Leonard Fournette auch sein mag, die große Frage, die die Jaguars in der kommenden Saison beschäftigen wird, dürfte dennoch die gleiche sein, die Jacksonville schon während des letzten Jahres begleitete: Verfügt die Offense über genug Qualität, um das eigene Run Game durch die Luft zu entlasten und zu unterstützen?
Schon 2017 schickten gegnerische Defensive Coordinators gegen Jacksonville so häufig einen zusätzlichen Defender in die Nähe der Line of Scrimmage wie gegen kein anderes Team der Liga. Ob die Jaguars diesem Trend im kommenden Jahr entgegenwirken können, darf aktuell noch bezweifelt werden. Nummer-eins-Receiver Marqise Lee hat zwar zwei solide Jahre hinter sich, ist allerdings keineswegs der Deep Threat, der eine aggressive Defense tief bestrafen könnte. Während seiner gesamten NFL-Karriere fing Lee gerade mal 12 Pässe für 30 oder mehr Yards. Der abgewanderte Robinson kam alleine 2015 auf 21 solcher Catches. Neuzugang Donte Moncrief entspricht diesem Skillset zwar eher, über die vergangenen zwei Saisons kommt der ehemalige Colts-Receiver allerdings kominbiert (!) auf weniger als 60 Catches und 700 Receiving Yards.
Darüber hinaus bleibt Bortles als Quarterback ein großes Fragezeichen. Der 26-Jährige spielte 2017 zwar tatsächlich eine solide Saison, leistete sich jedoch selbst in dieser Spielzeit so manchen haarsträubenden Fehler (die 24:27-Niederlage gegen die Arizona Cardinals lässt grüßen) und schien bei seinen eigenen Coaches so geringes Vertrauen zu genießen, dass diese sich teilweise mit Half-Field-Reads und designten Kurzpässen für ihren Quarterback im Game Plan zufrieden gaben. Umso erstaunlicher, dass die Franchise nun mindestens zwei weitere Jahre auf den ehemaligen Nummer-drei-Pick zu setzen scheint.
Auch die Defense steht vor Herausforderungen
Während die Offense also den gleichen Problemen wie in der Vorsaison ausgesetzt sein könnte, droht gleichzeitig das große Prunkstück des Teams, die dominante Defense, zumindest ein klein wenig ins Wanken zu geraten.
Personell steht die Unit von Defensive Coordinator Todd Wash weiterhin blendend da, praktisch jede Position - allenfalls die Safeties ausgenommen - ist mit Spielern mit Pro-Bowl- oder sogar All-Pro-Kaliber besetzt. Mit Campbell, Ramsey, Bouye, Malik Jackson, Telvin Smith und Yannick Ngakoue wurden in der vergangenen Saison gleich sechs Spieler in den Pro Bowl gewählt.
Dass Jacksonville auch 2018 dieses Level der Dominanz in der Defense erreichen kann, darf allerdings durchaus angezweifelt werden. Zum einen blieb "Sacksonville" während der gesamten Regular Season 2017 beinahe komplett von Verletzungen verschont. Ein Umstand, auf den man sich in der NFL alles andere als verlassen kann. Zwar verfügen die Jaguars in der Defensive Line auch über eine durchaus beeindruckende Tiefe, trotzdem steht es außer Frage, dass ein Ausfall von Eckpfeilern wie Campbell, Ramsey, Bouye oder auch Smith das defensive Grundgerüst zumindest ein wenig schwächen würde.
Wie schwer wiegen die Abgänge?
Darüber hinaus muss Wash auch die Abgänge von zwei Leistungsträgern verkraften und kompensieren. Mit Nickelback Aaron Colvin schloss sich einer der besten Slot-Corner der Vorsaison den Houston Texans an. Dass Neuzugang DJ Hayden diese Lücke gleichwertig schließen kann, darf zum aktuellen Zeitpunkt in jedem Fall bezweifelt werden.
Ähnlich schwer dürfte auch der Verlust von Middle Linebacker Paul Posluszny, der im Sommer sein Karriereende verkündete, wiegen. Der 33-Jährige war in der vergangenen Saison zwar kein Teil der Nickel- und Dime-Pakete mehr und stand daher in der gesamten Saison nur für 520 Snaps auf dem Feld (die Linebacker Smith und Myles Jack spielten beide mehr als 1000 Snaps), als solider Run- und guter Zone-Defender leistete jedoch auch Posluszny seinen Beitrag zur wohl besten Defense der NFL 2017. Der neue Mann für diese Rolle scheint nun Blair Brown, Fünftrundenpick der Jaguars 2017, zu sein. Nachdem dieser in der Vorsaison nur 48 Snaps spielen durfte, bleibt abzuwarten, wie schnell er Poslusznys Fußstapfen wird füllen können.
"Ich sage es voraus: 16:0."
Dem Selbstvertrauen der Jaguars tun diese Fragezeichen wenig überraschend keinen Abbruch. "Ich glaube, wir werden 16:0 schaffen. Ich sage es voraus: 16:0", tönte Malik Jackson bereits vor dem Beginn des Training Camps. "Ich glaube nicht, dass uns irgendjemand schlagen kann, solange wir gesund bleiben und das tun, was wir tun sollen."
Sowohl das Management als auch die Spieler in Jacksonville vertrauen weiter in die eigenen Stärken und glauben an die eigene Philosophie. Die Defense soll ein weiteres Jahr dominieren, das Run Game gleichzeitig die Offense tragen.
Belächelt werden die Jaguars heute definitiv nicht mehr. Campbell hat Recht behalten. Ob die verfolgte Strategie allerdings tatsächlich zum ganz großen Wurf führen kann, muss sich erst zeigen.