Verpflichtet ein Team einen neuen Head Coach, so hat dieser grundsätzlich zwei Optionen: Er kann seinen Stil - bezogen auf neue Coaches, Personalstruktur und Playbook - stur durchziehen, um zu versuchen, seine Vision eins zu eins umzusetzen. Alternativ kann er einen kompromissbereiten Ansatz wählen, beispielsweise, indem er sein Scheme stärker an das vorhandene Personal anpasst, anstatt Spieler in unvorteilhafte Rollen zu drücken. Oder auch, indem er bei der Auswahl seiner Position-Coaches auf die Vorlieben seiner Stars hört.
Diesen Weg wählte Sean McVay Anfang des Jahres. Er war gerade als jüngster Head Coach der modernen NFL-Geschichte bei den Rams vorgestellt worden und bastelte an seinem Trainerstab, als Todd Gurley seinen neuen Boss kontaktierte. Gurley bat McVay, Running-Backs-Coach Skip Peete zu halten und ihn nicht im Zuge des allgemeinen Umbruchs zu ersetzen. McVay erfüllte ihm den Wunsch.
"Wenn du einen solchen Schlüsselspieler hast", sollte er später zu Protokoll geben, "dann ist es in meinen Augen wichtig, ihm zu zeigen, dass du auf deine Spieler hörst. Ihre Meinung ist wichtig."
Es ist eine nette Anekdote, die Gurleys Standing innerhalb des Teams unterstreicht. Der Running Back stürmte 2015 als Rookie-Superstar mit vier 100-Rushing-Yard-Spielen in Folge auf die NFL-Bühne und wurde schnell zum neuen Gesicht der Rams. Der damalige Head Coach Jeff Fisher verbot seiner Defense im Training während der Vorbereitung auf die vergangene Saison Körperkontakt mit Gurley, er sollte nach dem Umzug der erste Offense-Superstar in Los Angeles werden.
Die Realität jedoch sah gänzlich anders aus und wirft eine für Rams-Fans beunruhigende Frage auf: Wie sehr müssen sie um den fraglos talentiertesten Spieler ihrer Offense besorgt sein?
Todd Gurley: Dramatischer Absturz von 2015 auf 2016
Ein Blick auf die Statistiken jedenfalls gibt jede Menge Grund zur Sorge. Gurley knackte 2016 kein einziges Mal die 100-Rushing-Yard-Marke, nur ein Mal kam er über 80 Yards (85 Yards in Week 3 gegen Tampa Bay). Nachdem er 2015 von allen Running Backs mit mindestens 150 Carries die prozentual meisten Runs von mindestens 25 Yards hatte (8 von 229) rangierte er in der gleichen Kategorie 2016 auf dem letzten Platz - mit keinem einzigen Run über 25 Yards. Persönlicher Bestwert war ein 24-Yarder gegen Miami in Week 11.
Weitere Stats gefällig? Kein Problem. Es kam bisher 349 Mal vor, dass ein Running Back innerhalb einer Saison mindestens 275 Rushing-Versuche verzeichnete. Todd Gurleys 3,18 Yards pro Run aus der Vorsaison sind der fünftschwächste Wert in dieser Liste. Kleiner Hoffnungsschimmer für alle Rams-Fans: Vier der zwölf schwächsten Spielzeiten in dieser Kategorie gehören einem Running Back, der in der betreffenden Saison unter Jeff Fisher spielte.
Unter dem Strich aber ist es wenig überraschend, dass Interims-Head-Coach John Fassel - der inzwischen wieder Special Teams Coordinator ist - nach dem Saisonende zugab, Gurley habe es manchmal erzwingen wollen: "Frustration spielte hier auch eine Rolle, und eventuell hat auch sein Selbstvertrauen gelitten. Vielleicht das Selbstvertrauen, vielleicht auch das Vertrauen in das ganze Paket."
Gurley ignoriert den Play-Call auf dem Platz
Das ganze Paket, ein gutes Stichwort. Denn es ist kein Geheimnis, dass Gurley im Laufe der Saison offensichtlich am Play-Calling zweifelte. Coach Peete selbst verriet, dass Gurley teilweise ungeduldig geworden und vom Play-Call weggegangen sei. "Er hat versucht, Dinge zu verändern", erklärte Peete bei ESPN, "aber der wichtigste Aspekt, und darüber haben wir auch gesprochen, ist die Tatsache, dass du in das Scheme totales Vertrauen haben musst."
Gurley aber habe manchmal eben mehr gewollt. Peete sprach davon, dass Gurley Dinge erzwingen wollte. Das habe manchmal geklappt, manchmal aber eben auch nicht. Richtig wäre wohl eher: Zu häufig klappte es nicht.
Rams: Probleme zwischen Gurley und der Offensive Line
Doch warum kam es überhaupt so weit, weshalb klappte im Run Game der Rams überhaupt nichts? Neben Gurley selbst hatte das zwei zentrale Gründe. Gegner stellten einerseits die Box zu, weil sie das Passing Game um Jared Goff nicht fürchteten. Andererseits aber funktionierte auch das Zusammenspiel zwischen Gurley und der Offensive Line überhaupt nicht.
"Häufiger sah man, dass wir nicht auf der gleichen Wellenlänge waren", gab Guard Jamon Brown bei ESPN kurz nach dem Saisonende zu. "Ich weiß nicht, was davon durch die Anweisungen der Coaches kommt. Aber der entscheidende Punkt ist: Wir müssen auf die gleiche Wellenlänge kommen. Denn wenn das passiert, sind wir ziemlich gut."
Gurley und der statistische Abstieg
Den Beweis dafür sind die Rams allerdings noch schuldig, denn für viele war der Schuldige mit Blick auf Gurleys schwache Saison schnell gefunden: Die Offensive Line. Gurley verzeichnete im Schnitt 1,59 Yards vor erstem Gegnerkontakt, der ligaweit zweitniedrigste Wert. Ob in diversen Statistiken oder auch anhand des Tapes, man kommt um die Erkenntnis nicht herum: die Rams-Line hatte in der vergangenen Saison massive Probleme. Nicht umsonst wurde Andrew Whitworth verpflichtet, der als Left Tackle ein klares Upgrade darstellt.
Alles aber auf die Line zu schieben, wäre dann doch zu einfach. Zwar kamen laut Pro Football Focus stolze 68,5 Prozent von Gurleys Rushing-Yards nach erstem Gegnerkontakt, der vierthöchste Wert aller Spieler mit mindestens 150 Runs. Gleichzeitig aber reichen seine 2,18 Yards pro Run nach erstem Gegnerkontakt gerade einmal für Rang 46. Nachdem er 2015 noch alle 5,5 Runs ein Missed Tackle erzwungen hatte, gelang ihm dies in der vergangenen Saison nur noch alle 9,9 Runs.
Immer wieder hatte man den Eindruck, als würde Gurley seine Blocks nicht mehr richtig lesen, sondern stattdessen grundlos in Verteidiger oder auch in den Rücken seiner Blocker rennen. Unbestreitbare Probleme mit seiner Vision als Runner wurden deutlich und der Downhill-Runner fühlte sich mit einigen Umstellungen innerhalb der Offense ebenfalls unwohl: Gurley hatte 2016 aus der Shotgun heraus 60 mehr Runs als noch 2015.
Das passt auch zu der Auswertung von ESPN-NFL-Insider K.C. Joyner. Joyner hat eine Methode entwickelt, die misst, bei wie vielen seiner Rushing-Yards ein Running Back gutes Blocking hatte. Hier baute die Rams-Line von 2015 auf 2016 deutlich ab, fiel allerdings trotzdem lediglich ins untere Mittelfeld zurück. Die Konsequenz: Gurley hätte noch immer deutlich mehr Yards abliefern müssen.
Wie funktioniert Todd Gurley im Passing Game?
Gurley muss also wieder Vertrauen in das Scheme und das Blocking entwickeln. Nur dann kann er seine Vision wieder in die Spur bekommen und instinktiv die Lücken im Blocking ausnutzen. Das betrifft zunächst ihn selbst, doch auch das Zusammenspiel mit der eigenen Offensive Line muss besser werden. Pittsburghs Le'Veon Bell etwa wird stets - zurecht - für seinen einzigartig geduldigen Laufstil gelobt. Der funktioniert aber nur aufgrund seiner Explosivität - und weil die O-Line genau weiß, wie sie für Bell blocken muss.
"Es geht darum, herauszufinden, welches Tempo er braucht", erklärte auch Guard Roger Saffold, "und sobald man das hinbekommen hat, sieht man, wie das gemeinsam funktionieren kann." Zwischen Running Back und Offensive Line muss im Idealfall eine Harmonie herrschen. Beide müssen wissen, was der andere bei welchem Play macht, welche Tendenzen es gibt, und so weiter.
Und Gurley, vor seinem Draft als reiner Runner zurecht als eines der besten College-Prospects seit einer ganzen Weile eingestuft, wird außerdem auch an den anderen Bereichen seines Spiels feilen müssen. In Pass-Protection etwa hat er noch viel Luft nach oben, um wirklich der Three-Down-Back und der Fokus einer guten Rams-Offense werden zu können - wozu er ohne Frage in der Lage ist.
Die Rams 2017: Alles neu mit Sean McVay?
"Er war von sich selbst sehr enttäuscht", brachte es Peete auf den Punkt, "Todd ist ein sehr stolzer Mensch. Er arbeitet hart und versteht, was er machen muss, um bereit zu sein. Aber ich sage es jungen Spielern immer wieder: Manchmal bist du bei den Dingen, bei denen du dich als gut einschätzt, doch noch nicht ganz so weit. Man muss immer an sich weiter arbeiten."
Die Rams-Offense hat jetzt zwei Jahre in Folge die wenigsten Yards aller Teams produziert: 297,6 Yards pro Spiel 2015 fielen auf derer 262,7 in der vergangenen Spielzeit. Mit einem Gurley in der 2015er-Form und einer verbesserten Offensive Line sollte es möglich sein, hier den Hattrick zu verhindern - umso mehr, weil Sean McVay in Washington über die letzten Jahre bewiesen hat, dass er Offense-Schemes versteht. Davon sollte dann auch Quarterback Goff profitieren.
Und Gurley? "Die Vergangenheit ist die Vergangenheit", antwortete er auf die Frage nach den verpassten Gelegenheiten in der abgelaufenen Saison. "Wir alle haben uns reingehängt. Aber in den Spielen haben die Dinge einfach nicht geklappt und wir haben häufig den Kürzeren gezogen. Zu häufig."