So richtig ernst nahm die Texans zum Start der vergangenen Playoffs niemand. Houston wäre wohl direkt in der Wildcard-Runde zuhause schon der Underdog gewesen, hätten die Raiders nicht ohne Derek Carr antreten müssen. Eine Woche später in New England war die Rollenverteilung dann so klar, wie nur selten in den Playoffs. Zumindest im Vorfeld.
Denn was die siegessicheren Patriots-Fans zumindest über die ersten drei Viertel zu sehen bekamen, war so in Foxboro nicht geplant: Houston setzte Tom Brady immer wieder unter Druck, nach einer nahezu perfekten Regular Season warf Brady zwei Interceptions und landete deutlich häufiger als gewollt auf seinem Hosenboden.
Zwar zogen die Patriots schließlich davon, es blieb aber vor allem eine Frage: Was wäre passiert, hätte Houston nicht Brock Osweiler als seinen Quarterback gehabt? Der nämlich konnte die Offense viel zu selten bewegen, kostspielige Drops der Texans-Receiver erledigten den Rest.
Houstons Defense dagegen war über weite Strecken ein richtig harter Brocken für den späteren Super-Bowl-Champ - und das, obwohl J.J. Watt schon seit Monaten verletzt ausfiel. Ein wesentlicher Grund für den starken Auftritt der Texans-Defense, neben den individuellen Leistungen von Jadeveon Clowney und Whitney Mercilus, war eine Formation, die im Laufe der vergangenen Saison zunehmend in Mode gekommen ist. Sie könnte den Texans entscheidend dabei helfen, 2017 die beste Defense in der NFL aufzubieten: Die 5-Across-Formation.
"5 Across": Der Double-A-Gap-Blitz auf Aufputschmittel
In den vergangenen Jahren hat sich der Double-A-Gap-Blitz als einer der heißesten Trends festgesetzt, um Druck auf den Quarterback zu erzeugen. Ganz besonders Mike Zimmer machte davon in der 2016er Spielzeit mit seinen Minnesota Vikings Gebrauch. Dabei positionieren sich zwei Verteidiger, meist Linebacker, links und rechts vor dem gegnerischen Center.
Hieraus entstehen nach dem Snap verschiedene Szenarien: Beide können tatsächlich die Line attackieren, beide können sich aber auch in Coverage zurückfallen lassen. Oder einer greift an, einer zieht sich zurück. In jedem Fall muss die Offense die Präsenz der beiden Spieler in ihrer Protection berücksichtigen - und weder der Quarterback, noch die Offensive Line wissen vor dem Snap, wo der Druck herkommen wird.
"5 Across" ist in gewisser Weise eine extreme Variante des Double-A-Gap-Blitzes: Fünf potentielle Rusher stehen vor dem Snap der Offensive Line gegenüber. Daraus können dann alle fünf tatsächlich die Line attackieren, aber sich auch in diversen Kombinationen zurückfallen lassen - oder durch einen zusätzlichen Blitzer noch unterstützt werden. Houston spielt mit diesen Möglichkeiten, das wurde auch gegen die Patriots deutlich. Mehrfach kamen nur die drei Inside-Rusher tatsächlich, Defensive Coordinator Romeo Crennel mischte allerdings fleißig durch und hat verschiedenste Blitz-Pakete in der Hinterhand.
Diese aggressive Art der Defense diktiert gewissermaßen die Protection: Attackieren alle fünf, muss die Line weg Eins-gegen-Eins spielen. Möglicherweise erhält ein O-Liner Unterstützung durch einen Running Back oder Tight End, ansonsten aber legt die Defense die Matchups fest. Die Offense wird so auch zwangsläufig eindimensional in ihrer Protection, muss sie doch damit rechnen, dass jeder Blocker einen direkten Gegenspieler hat.
Jadeveon Clowney: "Ich habe überall gespielt"
Für diese Art der variablen Front hat Houston das perfekte Personal. Clowney und Mercilus etablierten sich in der vergangenen Saison als Top-Line-Spieler, Watts Rückkehr nach überstandener Rückenverletzung wird Aufmerksamkeit von den beiden nehmen. Insbesondere für Clowney, den mancher schon als Draft-Bust abgeschrieben hatte, war die vergangene Saison ein echter Durchbruch und eine Offenbarung in puncto Flexibilität.
Nachdem er 2015 noch 47 Prozent Defensive End, 40 Prozent Outside Linebacker, neun Prozent Inside Linebacker und vier Prozent Defensive Tackle gespielt hatte, änderten sich diese Zahlen 2016 deutlich: 57 Prozent DE, 27 Prozent OLB, sechs Prozent ILB und zehn Prozent DT. Sechs Sacks, 14 QB-Hits und 38 QB-Hurries gelangen dem variablen Clowney, seine 17 Tackles for Loss bedeuteten ligaweit den geteilten ersten Platz.
"Sie haben mich überall aufgestellt, ich habe überall ein wenig gespielt", bilanzierte er jüngst im Houston Chronicle. "Ich kenne jetzt das System und das Scheme und weiß, was wir über die letzten drei Jahre gemacht haben. Das vereinfacht die Sache für mich."
Die Houston Texans und das Comeback von J.J. Watt
An dieser Vertrautheit sollte sich auch 2017 nichts ändern, wenngleich eine Personalie mit Spannung betrachtet wird: Crennel nämlich wurde zum Co-Head-Coach befördert, sodass Linebacker-Coach Mike Vrabel zum Defensive Coordinator aufsteigt. Scheme-technisch aber dürften sich die Umstellungen im Rahmen halten - Gerüchten zufolge hatten die Verantwortlichen in Houston primär Angst, dass Vrabel ohne die Beförderung weg sein könnte.
Es wäre jedenfalls nicht gerade weise von Vrabel, an Houstons spannender und ideal besetzter 5-Across-Front zu schrauben. Oder, wie es Defensive-Line-Coach Anthony Weaver laut ESPN ausdrückte: "Wir haben das Glück, viele dynamische Spieler zu haben - ganz besonders die drei Jungs an der Line. Es ist unsere Aufgabe, sie in die bestmögliche Position zu bringen. Das ist nicht immer so einfach, wie es wirkt. Aber die Erwartungen sind unverändert. Wir wissen, was wir von diesem Mannschaftsteil erwarten, und die Tatsache, dass wir J.J. zurückbekommen, hilft natürlich enorm."
Crennel fügte hinzu: "Ich denke wir alle wissen, was J.J. kann. Gegner müssen sich jetzt entscheiden, auf wen sie ihre Protection konzentrieren: Auf J.J.? Auf Clowney? Ich denke, das wird es Offenses extrem schwer machen. Wenn die beiden Jungs und Whitney fit bleiben, wird es schwierig für unsere Gegner."
"Hohe Erwartungen" an D.J. Reader
Alle drei können an der Line verschiedene Positionen bekleiden, alle haben die Athletik, um auch gelegentlich als Coverage-Spieler zu agieren. Und tatsächlich könnten Defenses an der Line noch ein viertes Problem bekommen: Defensive Tackle D.J. Reader hat sich in der vergangenen Saison schon in die Startformation gespielt, in seinem zweiten NFL-Jahr übernimmt er die Starter-Rolle von Vince Wilfork. Auch er passt in das variable Scheme, 2016 hatte er vier einen Start als Nose Tackle, vier als Left Defensive End und vier als Right Defensive End.
"Wir haben hohe Erwartungen an D.J.", so Weaver im Houston Chronicle. "Ich denke man hat einen kleinen Teil seines Potentials schon Vorjahr gesehen." Jeder der vier Spieler ist in der Lage, jede Position zumindest direkt an der Defensive Line zu spielen. Für Vrabel ein enormer Trumpf in einer Defense, die auch ohne Watt in der vergangenen Saison die wenigsten Yards pro Spiel (301,3) und die fünftwenigsten pro Play (5,1) zuließ.
Der fünfte flexible Front-Seven-Baustein ist Benardrick McKinney. Der Linebacker, von dem Head Coach Bill O'Brien einst erzählte, dass er während seines ersten NFL-Drives vor Aufregung hyperventilierte, ist inzwischen ein Fixpunkt im Zentrum der Front: McKinneys Explosivität verhalf ihm 2016 zu 129 Tackles, als einziger Spieler hatte er über 100 Tackles und fünf Sacks. Er kann covern - und auch blitzen, was bei Houstons 5-Across-Formationen eine zusätzlich gefährliche Waffe sein dürfte.
Houstons Secondary - eine mögliche Schwachstelle?
Gleichzeitig aber gibt es auch in Houston, wie in jedem Team, eine Euphorie-Bremse. Die befindet sich bei den Texans hinter der Front Seven: Die Secondary verlor in der Free Agency mit A.J. Bouye und Quintin Demps ihre beiden besten Spieler - gegnerische Quarterbacks hatten ein Passer-Rating von 55,6, wenn sie in die Richtung von Bouye oder Demps warfen (92,3 bei der restlichen Secondary). Sieben der elf Texans-Interceptions im Vorjahr gehen auf das Konto der beiden.
Vor allem Bouye etablierte sich im Laufe des Jahres als Shutdown-Cornerback, ihn zu ersetzen wird nicht leicht sein. Möglicherweise könnte auch die Risikobereitschaft mit Blick auf das Blitzing darunter leiden. Jonathan Joseph, Kareem Jackson und Kevin Johnson müssen in der Secondary jetzt die Kohlen aus dem Feuer holen. Cornerback Jackson wird hierfür im Training bereits als Safety eingesetzt.
Zudem ist die Quarterback-Position ein ganz eigenes Thema. Houston befindet sich seit Jahren auf der Suche nach seinem Franchise-Quarterback, und schreckte dabei auch vor Risiken nicht zurück. Sei es die letztlich kolossal gescheiterte Verpflichtung von Brock Osweiler, oder jetzt der teure Draft-Trade für Deshaun Watson, der mit Tom Savage um den Starter-Platz konkurriert.
Angesichts der eigenen Defense reicht ein Quarterback, der dem eigenen Team nicht schadet. In O'Briens komplizierter Offense gelang das bisher wohl noch am besten Brian Hoyer, der das Scheme schon aus New England kannte.
J.J. Watt: "Sehen, wozu wir in der Lage sind"
Die 5-Across-Formation ist keine exklusive Erfindung der Texans, auch andere Teams - etwa die Denver Broncos - setzten sie während der vergangenen Saison bereits ein. Doch Houston könnte mit seinen variablen und gleichzeitig individuell dominanten Spielern in der Front Seven den perfekten Kader haben, um diese Art der Defense regelmäßig mit Erfolg auf den Rasen zu bringen.
Insgesamt fünf Pressures verzeichneten Clowney und Mercilus jeweils in jenem Playoff-Duell mit den Patriots. Beide wurden kontinuierlich herum geschoben und hatten besonders Erfolg als Defensive Tackle: Mercilus etwa schlug zwei Mal Pats-Center David Andrews bei einer 5-Across-Formation, beide Male resultierte es in einem Sack.
"Wir haben viele tolle Puzzle-Teile und einen phänomenalen Trainerstab", weiß auch Watt. "Jetzt geht es darum, das auch auf dem Platz zu zeigen. Ich denke wir sehen, wozu wir in der Lage sind. Dann ist es wichtig, daran zu glauben, dass man den nächsten Schritt machen kann. Und ich denke, diesen Glauben haben wir jetzt."