Bengals-Fans dürften heute noch immer kurz zusammenzucken, wenn sie an die 2015er Saison denken. Cincinnati stellte damals eines der talentiertesten, tiefsten Teams der NFL: Die Bengals gewannen ihre ersten acht Spiele allesamt, darunter Siege über Seattle, Pittsburgh, Baltimore und die Chiefs, standen am Ende bei einer 12-4-Bilanz und zogen als Division-Sieger in die Playoffs ein.
Doch wie in den meisten Spielzeiten der Bengals-Historie ließen Frust und Verzweiflung nicht lange auf sich warten: In Week 14 verletzte sich zunächst Quarterback Andy Dalton und sollte den Rest der Saison verpassen, doch war das nur die Ouvertüre für das Drama in den Playoffs. Ausgerechnet gegen Erzrivale Pittsburgh kollabierten die Bengals auf unglaubliche Art und Weise und warfen einen vermeintlich schon sicheren Playoff-Sieg doch noch weg.
Die anschließenden Wochen und Monate wurden nicht wirklich besser. Cincinnati verlor Offensive Coordinator Hue Jackson sowie unter anderem die Wide Receiver Marvin Jones und Mohamed Sanu. Es folgte schließlich eine massiv enttäuschende Saison, geprägt von Verletzungen, Problemen in der Offensive Line und Rückschritten in mehreren Mannschaftsteilen. Die Offense stürzte von durchschnittlich 26,2 Punkten 2015 auf 20,3 Zähler pro Spiel ab, erstmals seit 2010 verpassten die Bengals die Playoffs.
Entsprechend deutlich war das Medien-Echo. Wieder einmal wurde zumindest vereinzelt die Entlassung von Head Coach Marvin Lewis gefordert, seine Bilanz von null Siegen und sieben Pleiten in den Playoffs wird immer häufiger angebracht. Und auch vor der kommenden Saison gibt es berechtigte Kritik an der Kader-Zusammenstellung und Zweifel an den Erfolgschancen 2017. Doch die Bengals haben sich ein junges, interessantes Team aufgebaut, das trotz einiger Schwachstellen für Furore sorgen könnte. Die große Frage scheint: Wie schnell gelingt es den Verantwortlichen, aus mehreren jungen Spielern Leistungsträger zu machen?
Cincinnati: Ken Zampese gelobt Besserung
"Einige Dinge" habe es gegeben, "die nicht so geklappt haben, wie wir uns das erhofft hatten", lautete die Analyse von Ken Zampese nach der vergangenen Saison. Zampese, jahrelanger Quarterbacks-Coach in Cincy, hatte von Jackson den Posten des Offensive Coordinators übernommen und musste mit ansehen, wie seine Offense durch Ausfälle dezimiert und den eigenen Ansprüchen nie wirklich gerecht wurde.
Das soll in der neuen Saison alles anders werden: "Wir haben Optionen, gute Optionen. Jungs wie John Ross, Tyler Eifert, Giovani Bernard - Spieler, die neu dazukommen oder nach Verletzung zurück sind. Die Frage danach, wie schnell diese Spieler zurück in ihre Rolle schlüpfen und ihren Part erfüllen können, wird viele weitere Aspekte bestimmen."
John Ross - der neue Partner für A.J. Green
Tatsächlich war Cincinnatis Offense im Vorjahr viel zu häufig eine One-Man-Show: Receiver A.J. Green spielte teilweise gewohnt groß auf, und das obwohl sich Defenses auf ihn konzentrieren konnten. Doch auch für den 28-Jährigen war die Saison verletzungsbedingt vorzeitig beendet, während Tight End Tyler Eifert nur acht Spiele (zwei Starts) und Running Back Giovani Bernard nur zehn Spiele (zwei Starts) absolvierte. Kurzum: Cincinnati hatte zu selten genügend gefährliche Waffen auf dem Platz.
Damit - mit dieser Einstellung ging das Team ganz offensichtlich in den Draft - soll jetzt wieder Schluss sein. Die Bengals investierten ihren inzwischen ungewohnt hohen Draft-Pick in Wide Receiver John Ross, der wenige Wochen vorher den Combine-Rekord über die 40 Yards gebrochen hatte. In 4,22 Sekunden war er über die umgerechnet 36,6 Meter geflogen. Gleichzeitig ist Ross, das zeigt sein College-Tape, mehr als nur ein Sprinter.
Der 21-Jährige beherrscht vielmehr ein bereits ausgeprägtes Route-Arsenal und kann seine Geschwindigkeit in mehreren Facetten des Spiels nutzen. So sind etwa seine Cuts extrem präzise und scharf, mit seiner Explosivität kann er hierbei Verteidigern große Probleme bereiten. Mit Press-Coverage mag er noch Probleme haben, doch seine Vielseitigkeit wird den Bengals helfen: Ross wurde im College als "klassischer" Receiver, als Running Back bei Trick-Spielzügen und als Returner eingesetzt.
"Er kann im Slot spielen und Defenses tief attackieren", lobte Green seinen neuen Partner bereits. "Wir müssen den Ball in seine Hände bekommen und ihn die Plays machen lassen. Man kann ihn überall einsetzen."
Joe Mixon: Eine riskante Bengals-Verjüngungskur
Allerdings kam Ross nicht ohne Risiko - Verletzungssorgen begleiten den Speedster, und auch die Bengals müssen das aktuell am eigenen Leib erfahren. Infolge einer Schulter-Operation konnte Ross in der bisherigen Saisonvorbereitung überhaupt nicht mitwirken, es ist davon auszugehen, dass er noch bis etwa Mitte August weitestgehend zuschauen muss.
Probleme ganz anderer Natur hat Joe Mixon im Gepäck: Mixon könnte sich rein sportlich als der beste Running Back dieser Draft-Klasse entpuppen, als physischer und gleichermaßen geduldiger Runner und gleichzeitig gefährlicher Receiver verkörpert er den modernen Running-Back-Typ. Weil er im College aber vor einigen Jahren eine Kommilitonin im Streit zu Boden geschlagen hatte, wurde er von mehreren Teams komplett von der Draft-Liste gestrichen. Die Bengals sind davon überzeugt, dass er ernsthaft Reue zeigt und sollte er abseits des Platzes tatsächlich sauber bleiben, dürfte sich Mixon schnell als ein Steal erweisen.
Dessen ist sich auch Jeremy Hill bewusst. Der 24-jährige Running Back geht in sein letztes Vertragsjahr, die sportlichen Argumente für einen neuen Deal sind eher überschaubar. "Man holt sich keinen Running Back in der zweiten Runde, um ihn dann auf die Bank zu setzen", erklärte er daher gegenüber SiriusXM mit Blick auf Mixon. "Joe wird einmal ein großartiger NFL-Spieler sein. Ich freue mich darauf, ihn auf dem Platz zu erleben."
Mixon gibt den Bengals eine Waffe, wie sie sie bisher nicht hatten. Ein Spieler, der explosiv die frei geblockten Lücken attackiert, und sich gleichzeitig auch als Receiver aufstellen sowie verlässlich in der Pass-Protection agieren kann - eine Art Mischung aus Hill und Gio Bernard. Letzerer sollte Cincinnati nach auskuriertem Kreuzbandriss ebenfalls wieder zur Verfügung stehen, Bernard dürfte im Training Camp wieder einsteigen. Die Bengals verfügen damit über ein hochtalentiertes Running-Back-Trio - und trotzdem bleibt ein großes Fragezeichen.
Cincinnati und die Probleme in der Offensive Line
Dieses Fragezeichen betrifft die Offensive Line. Einst das Rückgrat der Bengals-Offense, baute Cincinnati hier deutlich ab - nur um dann mit Andrew Whitworth und Kevin Zeitler die beiden besten O-Liner in der Free Agency zu verlieren. Football Outsiders hatte die Line 2016 in puncto Pass Protection im unteren Viertel 2016, mit einer Adjusted Sack Rate (Sacks plus Intentional-Grounding-Strafen unter Berücksichtigung von Down, Distanz zum nächsten First Down und Stärke des Gegners) von 7,3 Prozent. Hinter Teams wie Seattle, den Vikings oder den Jets.
Jetzt fehlt mit Whitworth ein Left Tackle, der über seine letzten 637 Pass-Protection-Snaps nur 15 Pressures zugelassen hat. Ersetzt wird er durch Cedric Ogbuehi: Ogbuehi absolvierte im Vorjahr elf Starts als Right Tackle, wo er neun Sacks und insgesamt 40 Pressures erlaubte. In der Folge verlor er seinen Stammplatz, jetzt soll er auf der linken Seite ran. "Ich bin sehr zuversichtlich: Er wird ein toller Spieler für uns sein", ist sich Zampese dennoch sicher.
Andre Smith, der nach nur vier Einsätzen für die Vikings nach Cincinnati zurückgekehrt ist, soll statt Right Tackle Right Guard spielen, Jake Fisher erhält mutmaßlich den Startplatz rechts außen in der Line. Kurzum: Die Bengals haben Stand jetzt in ihrer O-Line mehr Fragen, als Antworten und während ein Spieler wie Mixon eine schlechte Line überspielen kann, braucht Andy Dalton eine möglichst saubere Pocket, um sein Potential voll auszuschöpfen.
In dieser Hinsicht aber hat Cincinnati eine klare Entscheidung getroffen: Anstatt viel Geld und hohe Draft-Ressourcen in einen generell schwachen Line-Markt zu stecken, wurde der Fokus ganz klar auf die Skill-Player gelegt. Ross und Mixon, aber auch Viertrunden-Receiver Josh Malone bringen Explosivität und Speed mit, um Dalton schnelle Pass-Optionen zu geben. Geht diese Rechnung auf, könnten die Bengals trotz schwächerer Line wieder in Richtung Playoffs schauen. Es ist allerdings ein riskantes Spiel.
William Jackson zurück - Adam Jones gesperrt
In jedem Fall notwendig ist dafür auch eine verbesserte Defense, insbesondere gegen den Run. Die Bengals ließen 2016 die neuntmeisten Yards pro Run zu (4,4), zum Saisonstart fehlt Cornerback Adam Jones gesperrt. Defensive Coordinator Paul Guenther stellte dennoch klar: "Wir hatten zu Beginn der vergangenen Saison zu viele Fehler. Die dürfen wir uns nicht mehr leisten und die haben wir auch eliminiert. Wenn alle Spieler auf einer Wellenlänge sind, ist es erstaunlich, was man erreichen kann."
Die Mischung aus Stars wie Geno Atkins, Carlos Dunlap und Vontaze Burfict auf der einen und jungen Spielern wie Carl Lawson, Jordan Willis oder auch William Jackson, der seine komplette Rookie-Saison verletzt verpasst hatte, auf der anderen Seite fällt auch in der Defense auf. Entsprechend deutlich ist auch die Ansage von Guenther: "Es geht nicht darum, in die Playoffs zu kommen oder darum, ein Playoff-Spiel zu gewinnen. Es geht darum, den Super Bowl zu gewinnen. Egal, wie wir da hinkommen."
Klar ist: Marvin Lewis läuft die Zeit davon. Er ist im letzten Jahr seines Vertrages, und sollte es eine ähnliche Saison wie 2016 geben, könnte irgendwann auch in Cincinnati der Geduldsfaden reißen. Dieses Bengals-Team ist nicht so talentiert, wie es der Kader vor zwei Jahren war, mit einer hochtalentierten Draft-Klasse aber hat Cincy eine dringend benötigte Verjüngungskur erhalten. Die wird schnell zentrale Rollen übernehmen müssen, um die Enttäuschung der Vorsaison vergessen zu lassen. Zuzutrauen ist es ihr allemal.