Viel unterschiedlicher können zwei Karrieren in der NFL kaum beginnen: Auf der einen Seite Tom Brady, der 2000 als ein Niemand nach New England kam. Ein Sechstrunden-Draft-Pick, der als vierter Quarterback auf der Depth Chart einstieg und in seiner Rookie-Saison drei Pässe warf.
Auf der anderen Seite Matt Ryan, dritter Pick der ersten Draftrunde. Ein ganz anderer Einstand - der aber auf seine eigene Art umso schwieriger war, wenn man sich mit der vielleicht größten Sport-Figur Atlantas in den letzten 20 Jahren beschäftigt.
"Nicht jeder kann dir den genauen Tag nennen, an dem er endgültig auf dem Boden angekommen ist. Aber für mich ist das nicht schwer: der 26. April 2008. An diesem Tag hatte meine Mutter Geburtstag, meine Großmutter einen Schlaganfall, und die Falcons drafteten Matt Ryan, Quarterback, Boston College. An diesem Tag habe ich Atlanta verloren."
Michael Vick saß im Gefängnis in Kansas seine Haftstrafe ab, als die Falcons Ryan mit dem dritten Pick der ersten Runde wählten. Er hatte jahrelang Hundekämpfe auf seinem Grundstück stattfinden lassen, und bezahlte den Preis. Inzwischen setzt er sich für den Tierschutz ein, gilt als anderer Mensch, als selbstreflektiert, wie die obigen Zeilen verdeutlichen - verfasst von ihm selbst, vor einigen Tagen in einem ausführlichen Aufsatz im Players' Tribune.
Doch trotz seines Verbrechens war Vicks Erbe in Atlanta ein unglaublich schwieriges.
Superheld einer ganzen Stadt
Damit man sich dessen auch nur ansatzweise bewusst werden kann, muss man sich klar machen, dass Vick zu Beginn des Jahrtausends mehr als nur der Quarterback der Falcons war: Er gab einer Stadt, die jahrelang als sportlicher Bodensatz galt, ein komplett neues Gesicht.
Mit seiner unglaublich spektakulären Spielweise, die die NFL zuvor noch nie gesehen hatte, war er eine One-Man-Show, eine Attraktion, ein Hoffnungsträger der in Windeseile zur lebenden Legende avancierte. Er war ein afro-amerikanischer Superstar-Quarterback in einer Stadt, deren Bevölkerung zu über 50 Prozent aus Afro-Amerikanern besteht - während gleichzeitig Atlantas Hip-Hop-Szene steil auf dem Weg nach oben war.
"Was daran so cool war? Es war nicht einfach eine Football-Bewegung, oder eine Sport-Bewegung. Es war eine kulturelle Bewegung. Es war Sport made in Atlanta, Musik made in Antlanta, Filme made in Atlanta. All diese Dinge existierten nebeneinander und beflügelten einander, spornten einander an, auf eine besondere Art und Weise."
Die Stadt bekam innerhalb kürzester Zeit ein rundum neues Gesicht. Und Michael Vick verkörperte dieses Gesicht wie kein anderer. Er fügte Brett Favres Green Bay Packers die erste Playoff-Heimniederlage in der großen Packers-Geschichte zu, es ist schwer in Worte zu fassen, wie sehr Atlanta seinen Quarterback liebte - und wie sehr er selbst im Moment lebte.
Der falsche, einfache Weg
Das Problem mit diesem Phänomen: Es zieht die falschen Leute an. Und so hatte Vick, nach wie vor gerade mal Anfang 20, in Atlanta schnell zahlreiche Ja-Sager und Bewunderer um sich herum. Die feierten alles, was er tat, während sich zuhause in Virginia - Vick flog häufig über freie Tage in die alte Heimat - in seinem abgeschotteten Anwesen ein Hundekampf-Ring etablierte.
"In den ersten Monaten im Gefängnis habe ich wirklich verstanden, wie tief ich gefallen bin. Ich habe verstanden, wie viel Schaden ich angerichtet habe und wie viel Arbeit es kosten würde, nur einen Bruchteil des Respekts, den ich verloren hatte, wieder zurück zu erobern - sowohl den Respekt der anderen Leute, als auch meinen Respekt vor mir selbst. Ich habe gelernt, die Konsequenzen zu akzeptieren."
Dabei gab es sie, die Möglichkeiten, eine andere Richtung und andere Wegbegleiter zu wählen. Wie etwa Andrew Young, der einst für Dr. Martin Luther King arbeitete und anschließend US-Botschafter bei den Vereinten Nationen und Bürgermeister Atlantas wurde. Young begrüßte Vick mit offenen Armen und wurde gleichzeitig eine mahnende Stimme. "Ich habe versucht, ihn dazu zu bekommen, sich selbst ernst zu nehmen", erzählte er Anfang Januar Terence Moore von Sports on Earth.
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Vick jedoch ignorierte ihn meist und wählte lieber den bequemen Weg der Ja-Sager. Er leistete sich schon vor dem Platzen der großen Bombe Fehltritte abseits des Platzes, verärgerte Mitspieler und Coaches mit seiner schlechten Arbeitseinstellung.
"Manche Dinge vergisst man nicht"
Und trotzdem: Der Sturz auf den Boden der Realität war für alle Beteiligten unglaublich brutal - und die Stadt war gespalten. Denn nach wie vor gab es zahlreiche Fans, die Vick zurück wollten, sobald er seine Strafe abgebüßt hätte. Somit akzeptierten viele Ryan als neuen Franchise-Quarterback nicht, und das zog sich - wenn auch in abgeschwächter Form - über Jahre hin.
"Als Matt gedraftet wurde, gab es diese Zweifel. Aber er hat sich entwickelt und stand stets über den Dingen", lobte etwa Falcons-Geschäftsführer Thomas Dimitroff nach dem Sieg über die Packers im Championship Game. Ryan selbst, von Peter King vom MMQB nach dem Spiel auf seine Entwicklung vom kritisch beäugten Vick-Nachfolger bis heute angesprochen, antwortete lediglich: "Manche Dinge vergisst man nicht."
Wie sollte er auch? Schließlich muss Ryan in seinem Kopf nur zwölf Monate zurückgehen: Im ersten Jahr unter Offensive Coordinator Kyle Shanahan spielte er statistisch seine schlechteste Saison seit langem, 21 Touchdown-Pässen standen am Ende 16 Interceptions gegenüber. Ryan fühlte sich in der neuen Offense noch sichtbar unwohl - und die Falcons-Fans kannten keine Gnade.
Ryan wurde bei mehreren Heimspielen ausgepfiffen, es wurde medial offen darüber diskutiert, ob sich die Falcons womöglich von ihrem Quarterback trennen könnten. "Auch wenn es wie ein Klischee klingt: Du musst dem Prozess vertrauen und dich auf die Dinge konzentrieren, die du kontrollieren kannst", gewährte Ryan jüngst bei ESPN Einblicke in seinen Umgang mit der Kritik.
"Er hat Demut verkörpert"
In gewisser Weise war das schon in jungen Jahren Ryans Football-Motto. Seine frühere High School Penn Charter übermittelte dem MMQB dieses Zitat aus Ryans letztem Jahr an der Schule: "Es ist schön, große Zahlen aufzulegen. Aber wichtiger ist es, Spiele zu gewinnen."
Ryan war in einigen Dingen der Gegensatz zum jungen Michael Vick. Er wählte Boston College, weil er dort - nachdem er bei Penn Charter als Triple-Option-Quarterback hatte auftreten müssen - in einer Pro-Style-Offense würde spielen können. "Er hat Demut verkörpert. Daran erinnere ich mich besonders", verriet Chris Cameron, ehemaliger Boston-College-PR-Direktor dem Boston Herald.
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Barry Gallup, einer seiner College-Coaches, fügte hinzu: "Ich sage nicht, dass er perfekt ist. Das ist niemand von uns. Aber er ist alles, das du von einem All-American-Quarterback erwarten würdest. Ich denke wirklich, dass sein Charakter ein Grund dafür ist, dass er so erfolgreich ist." In jedem Fall war es ein Grund dafür, dass Atlanta ihn mit dem dritten Pick im Draft wählte - und hier werden kleinere Verflechtungen mit Brady deutlich.
Parallelitäten zu Tom Brady?
Der damals frisch gebackene Falcons-Geschäftsführer Thomas Dimitroff hatte sechs Jahre lang in New England sein Handwerk gelernt. Dem MMQB erzählte er: "Ich hatte die Möglichkeit, in Toms Nähe zu sein und ihn regelmäßig auf dem Platz zu beobachten. Ich habe seine Art, sein Verhalten bewundert. Seine Improvisationen in der Pocket haben mich fasziniert, und als ich damit begonnen habe, mich mit Matt Ryan zu beschäftigen, war das eine große Ähnlichkeit."
Beide könnten, erklärte Dimitroff die Parallelitäten weiter, "Dinge kreieren und vor dem Wurf in der Pocket improvisieren. Wenn man das dann mit meinem Eindruck von Matts Charakter kombiniert - mir wurden auf mehreren Ebenen Ähnlichkeiten klar." Und Ryan enttäuschte nicht: Sein erster Rookie-Pass war ein 62-Yard-Touchdown auf Michael Jenkins, er führte die Falcons in seiner ersten Saison 2008 erstmals seit 2004 wieder in die Playoffs.
Es folgten weitere Playoff-Teilnahmen 2010 (als NFC-Top-Seed), 2011 sowie 2012, als er schließlich seinen ersten Postseason-Sieg einführ - ein 30:28 gegen das junge Seahawks-Team um deren Rookie-Quarterback Russell Wilson. Dennoch schien es, als wären die Falcons stets einen Schritt hinter den ganz großen Teams. Irgendetwas fehlte.
Bis plötzlich ganz viel fehlte: Atlanta stürzte 2013 verletzungsgeplagt auf 4-12 ab, gefolgt von einer 6-10-Saison sowie schließlich im ersten Jahr unter Shanahan und Head Coach Dan Quinn acht Siege bei acht Pleiten.
Ryan passt sich an
Doch Ryan blieb nicht untätig. Er traf sich in der Offseason mit Shanahan und Quinn, um ausführlich über die Offense zu sprechen. Er ließ sich von den Quarterback-Gurus Tom House und Adam Dedeaux in Kalifornien einen Trainingsplan zusammenstellen und arbeitete über mehrere Monate intensiv mit beiden zusammen.
Und die Ergebnisse sieht man: Ryan fühlt sich bei den Rollouts, den zahlreichen Play-Action-Spielzügen in Shanahans Offense, deutlich wohler. Mitunter läuft er sogar mit dem Ball: Gegen Green Bay gelang ihm sein erster Touchdown-Run seit 2012. Shanahan fördert das, er weiß, dass ein gelegentlicher Quarterback-Run dabei hilft, eine vorsichtigere Defense zu erzwingen.
"Ich hatte das Gefühl, dass die Tatsache, dass die Falcons zurückgeworfen wurden, meine Schuld war. Wäre Matt ein Bust gewesen - meine Schuld an dem Schaden, den ich der Stadt zugefügt habe, wäre noch schlimmer geworden. Ja, ich bin ein Mensch. Es hat wehgetan, als die Falcons Matt gedraftet haben. Und für eine Weile war ich eifersüchtig auf seine Position. Aber dass Matt so ein Erfolg war und ist, das freut mich sehr. Für mich ist das eine Erleichterung, es gibt mir Frieden."
Brady und Ryan unter sich
Teilweise wirkt es fast, als hätte die endgültige Staffelübergabe von Vick zu Ryan erst mit dieser Postseason so richtig stattgefunden. Ryan hat die Falcons schon jetzt in sportliche Höhen geführt, die Vick mit dem Team nie erreicht hat, auch wenn er vor dieser Saison erst einen Playoff-Sieg auf dem Konto hatte.
"Als die Falcons die Packers vor zwei Wochen geschlagen und ihren Einzug in den Super Bowl perfekt gemacht haben - naja, es schien wie der perfekte Zeitpunkt. Mein letztes Spiel für die Falcons liegt jetzt fast zehn Jahre zurück. Es ist schwer zu erklären, aber irgendetwas in diesem Jahr, in dieser Saison fühlt sich richtig an. Auf mich wirkt es, als würde Atlanta - als Team, als Stadt, als Kultur - einen Abschluss finden. Und ich hoffe, dass mir das selbst ebenfalls gelingt."
Ryan ist in dieser Saison der Dirigent einer herausragend aufgebauten Offense, mit dem Titel würde er endgültig aus Vicks in Atlanta noch immer präsenten Schatten treten. Mit seinem Gegenüber am Sonntag hat er übrigensl über die Jahre Kontakt gehalten - so unterschiedlich ihre Wege in der NFL auch gewesen sein mögen, die von Dimitroff einst entdeckten Parallelen scheinen nicht komplett abwegig.
"Wir schicken uns immer Nachrichten während der Saison. Ich habe größten Respekt vor Matt. Ich mag ihn als Person, als Spieler und als Anführer", berichtete Brady bei WEEI, und Ryan fügte hinzu: "Ich glaube, jeder Quarterback in dieser Liga hat in einzelnen Dingen versucht, Tom zu imitieren. Für mich ist das beeindruckendste Merkmal seine Konstanz. Er arbeitet so hart und gibt alles. Das sind alles Dinge, die ich ebenfalls versuche."