Jede einzelne Person in der Scotiabank Arena zu Toronto wusste, dass der Ball in den finalen Sekunden von Spiel 5 in die Hände von Kawhi Leonard wandern würde. So auch die Golden State Warriors.
Als die Klaue also bei noch etwa sechs Sekunden auf der Uhr zum Drive ansetzte, schickten die Dubs sofort einen zweiten Mann zur Hilfe. Leonard musste den Ball abgeben, über Fred VanVleet landete der Spalding schließlich in der linken Ecke bei Kyle Lowry. Der Dreier zum Sieg?
Mitnichten, Draymond Green bekam irgendwie noch seine Finger dazwischen, fälschte den finalen Versuch des Raptors-Guards entscheidend ab und feierte mit seinen Teamkollegen den so wichtigen 106:105-Sieg. Die Warriors verkürzten damit in der Best-of-Seven-Serie auf 2-3, die Feierlichkeiten in Kanada mussten abgesagt werden. Vorerst zumindest.
Toronto Raptors: Die ungenutzten Chancen aus Spiel 5
Der Dreier von Lowry war nicht die einzige verpasste Chance der Raptors an diesem Abend. Als im Schlussabschnitt Kawhi Leonard in allerbester MJ-Manier das Heft in die Hand nahm und Toronto zu einem Sechs-Punkte-Vorsprung führte, sahen die Hausherren kurzzeitig fast wie der sichere Sieger aus.
In einer fragwürdigen und auf jeden Fall schlecht getimten Auszeit von Coach Nick Nurse schöpften die Dubs aber wieder Kraft. Nach dem Dreierregen der Splash Brothers konnte Toronto auch die Backcourt-Violation von Green oder ein Offensiv-Foul von DeMarcus Cousins in der Schlussminute nicht mehr bestrafen.
Und schließlich scheiterte auch Lowry, die erste Championship der Franchise-Geschichte vorzeitig einzutüten. Dabei hätte es irgendwie gepasst, wenn ausgerechnet er zum Helden der Raptors avanciert wäre.
Kyle Lowry in Toronto: Geprägt von Auf und Abs
Lowry hat lebhafte sieben Jahren im Trikot der Raptors hinter sich, geprägt von zahlreichen Auf und Abs. Der 33-Jährige war nicht immer unumstritten, dennoch ein wichtiger Eckpfeiler des Erfolgs der Franchise in den vergangenen Jahren. Und das, obwohl General Manager Masai Ujiri im Dezember 2013 eigentlich schon ein Trade-Paket um den Point Guard mit den Knicks vereinbart hatte.
Der Deal fand nicht statt - angeblich aufgrund eines Vetos von Knicks-Besitzer James Dolan -, Lowry blieb in Toronto, führte das Team 2017/18 gemeinsam mit DeMar DeRozan zur besten Saison der Franchise-Historie, nur um anschließend mit voller Wucht gegen die LeBron-Mauer zu knallen (0-4 in den Eastern Conference Semifinals gegen die Cavs).
Der Rest der Geschichte dürfte bekannt sein: Die Raptors gaben in der Offseason Lowrys besten Freund in Richtung Texas ab, ein Deal, der Lowry, die verbliebene Identifikationsfigur bei den Raptors, persönlich sehr schmerzte. Dafür kam Kawhi Leonard und mit ihm die Chance auf den ersten Ring.
Kyle Lowry: Die Stats erzählen nicht die ganze Wahrheit
Die abwechselnden Höhen und Tiefen, die sich durch Lowrys Karriere ziehen, machten auch in der diesjährigen Postseason nicht vor ihm Halt. Nach dem Null-Punkte-Debakel in Spiel 1 der ersten Runde gegen die Magic prasselte wieder einmal eine Menge Kritik auf Lowry ein. Die Reaktion auf dem Parkett folgte prompt.
In den beiden Auftaktpartien der Finals blieb Lowry dann allerdings wieder hinter den Erwartungen zurück, vielmehr machte er mit genauso vielen Fouls wie Assists auf sich aufmerksam. In Spiel 3 machte er dafür einen überragenden Job und im vierten Duell mit den Warriors war er trotz einer wenig beeindruckenden Statline (10 Punkte, 3/12 FG, 7 Assists) einer der besten Dinos auf dem Court.
Lowrys Einfluss auf das Spiel lässt sich jedoch nicht allein am klassischen Boxscore ablesen. Stattdessen lohnt sich ein Blick auf die sogenannten Hustle-Stats der NBA: Mit 16 gezogenen Offensiv-Fouls führt er die komplette Liga in den Playoffs mit großem Abstand an (Green auf Platz zwei mit acht Charges).
Ganz ähnlich verhält es sich bei den Loose-Balls. Lowry hat sich in dieser Postseason 45 der freien Bälle geschnappt, auch das reicht locker für den ersten Rang. Bei den Deflections rangiert er aktuell hinter Green und Kawhi immerhin auf dem dritten Platz (61).
Die Statistiken von Kyle Lowry in den NBA Finals 2019
Spiel | Minuten | Punkte | Rebounds | Assists | Fouls | FG |
Game 1 | 36:14 | 7 | 6 | 9 | 5 | 2/9 |
Game 2 | 27:41 | 13 | 1 | 2 | 6 | 4/11 |
Game 3 | 43:22 | 23 | 4 | 9 | 3 | 8/16 |
Game 4 | 37:18 | 10 | 2 | 7 | 4 | 3/12 |
Game 5 | 42:13 | 18 | 4 | 6 | 4 | 8/16 |
Raptors-Coach Nick Nurse lobt Kyle Lowry
"Er muss nicht die Last tragen, 20 oder 25 Punkte erzielen zu müssen, weil er verteidigt, das Team anführt und diese toughen Plays machen wird", lobte zuletzt auch Coach Nurse. "Er macht das instinktiv, Spiel für Spiel für Spiel."
Dabei darf man nicht vergessen: Lowry ist durchaus in der Lage, für eine eigene Scoring-Explosion zu sorgen. Sein hoher Basketball-IQ in der Offense erlaubt es ihm unter anderem, Schwachstellen in der gegnerischen Defense zu erkennen und gnadenlos auszunutzen.
In Spiel 5 - auch in dieser Partie wechselten sich durchwachsene mit starken Phasen (7 von 18 Punkten im vierten Viertel) ab - bekam dies vor allem Cousins in der Pick'n'Roll-Defense zu spüren. Lowry erzielte laut stats.nba.com in 4 Possessions gegen den Dubs-Center 6 Punkte.
NBA Finals: Der Quarterback der Raptors
In erster Linie tritt Lowry dennoch als Floor General in Erscheinung, nicht umsonst bezeichnete Danny Green ihn zuletzt als "Quarterback" des Teams. Er ist der Initiator des meist hervorragenden Ball-Movements der Raptors.
Wenn sich der Ball durch die eigenen Reihen bewegt, ist Toronto wenig überraschend am gefährlichsten. In den drei Siegen in den Finals gegen die Warriors legten die Kanadier im Schnitt 25,7 Assists pro Partie auf, bei den beiden Niederlagen sank dieser Wert auf 18 Vorlagen pro Partie.
Das wirkte sich in Spiel 5 vor allem auf die Half-Court-Offense aus, die laut Cleaning The Glass nur auf magere 0,88 Punkte pro Ballbesitz kam. Das Ball-Movement der Raptors hängt natürlich nicht allein von Lowry ab, auch Kawhi oder Marc Gasol spielen in dieser Hinsicht eine enorm wichtige Rolle. Doch es beginnt bei Lowry. Auch in Spiel 6 in Oakland wird er mit seinem Passing den Ton angeben müssen.
Raptors vs. Warriors: Die Defense entscheidet
Und auch mit seiner Defense. Mit seinem Einsatz und die Lowry-typische Bulldog-Mentalität gibt er regelmäßig die Marschrichtung vor, als primärer Verteidiger gegen Klay Thompson hat er allerdings eine Menge Arbeit vor sich. Zwar macht er trotz seiner relativ geringen Größe (1,85 Meter) auch im Post einen sehr guten Job gegen den Splash Brother, doch dessen heißes Händchen von Downtown konnte er in Spiel 5 nicht einschränken.
"Dass Steph und Klay 14 und 13 Dreier abfeuern konnten, war einfach zu viel. Wenn du ihnen so viele Dreier gibst, dann werden sie einige davon treffen", bilanzierte Lowry nach der Partie. Durch den erneuten Ausfall von Kevin Durant wird der defensive Fokus der Raptors in Spiel 6 wieder in allererster Linie auf dem Backcourt der Dubs liegen.
"Wenn sie auf dem Court sind, muss dir das bewusst sein. Sie sind wahrscheinlich zwei der besten Shooter aller Zeiten. Egal ob im ersten, zweiten, dritten oder vierten Viertel, dir muss immer bewusst sein, wo sie sind", so Lowry.
NBA Finals: Die Gelassenheit der Toronto Raptors
Einen wirklich besorgten Eindruck machten die Raptors vor dem letzten Auftritt der Warriors in der Oracle Arena aber nicht. In gewisser Weise scheint die Persönlichkeit von Kawhi auf das ganze Team und auch auf Lowry abgefärbt zu haben. Galt er früher noch als Hitzkopf, blieb er zuletzt auch in angespannten Situationen besonnen, beispielsweise als er von Warriors-Mitbesitzer Mark Stevens geschubst wurde.
"Wir müssen einfach da rausgehen und unseren Job erledigen", gab Lowry betont gelassen die Marschrichtung für Spiel 6 vor. "Wir sind ein professionelles Basketball-Team. Wir lassen uns nicht von Momentaufnahmen aus der Ruhe bringen. Wir sind nicht euphorisch, aber auch nicht zu negativ. Wir leben im Hier und Jetzt." Zumindest solange, bis der amtierende Champion nicht endgültig vom Thron gestoßen ist.