SPOX: Die Point-Guard-Position im Besonderen hat sich sehr verändert. Mittlerweile sind viele Point Guards die Topscorer Ihrer Teams.
Miller: Das wurde früher nicht so gerne gesehen. Da gab es meistens noch ein ziemlich eindeutiges Jobprofil: Der Point Guard sollte Vorbereiter sein und eigentlich nur dann selbst abschließen, wenn es zeitlich knapp wurde oder der Wurf sehr offen war. Wenn du nicht alle involviert hast, hat dich entweder der Coach rausgenommen oder du wurdest gleich getradet. Heute sieht das natürlich anders aus, auch wenn der Einser trotzdem noch Playmaker sein soll - er soll auch scoren. Man muss dazu sagen, dass es jetzt mehr Top-Athleten und mehr Shooter auf der Position gibt als früher. An sich gibt es ja auch keine klar definierten Positionen mehr - im Idealfall können alle Spieler dribbeln, passen und schießen.
SPOX: Sie haben Ihre Punkte selten per Dreier erzielt und waren stattdessen eher im Post aktiv - gibt es aktuell Guards, die in dieser Disziplin noch richtig gut sind?
Miller: Russell Westbrook ist auf jeden Fall jemand, der noch regelmäßig kleinere Gegenspieler auf den Rücken nimmt. Wobei er nicht unbedingt viel mit der Fußarbeit regelt, sondern einfach schneller und stärker ist als die meisten Guards - er überpowert sie. Wichtig ist aber einfach, dass man einen guten Mix hat. Ich habe ja auch nicht nur aufgepostet, sondern auch viele Midrange-Jumper genommen. Und wenn ein Dreier offen war, habe ich den auch genommen. Ich habe nur einfach nicht so viel draufgehalten, wie es manche Coaches von mir wollten. Allerdings hätten sie dann auch gemeckert, wenn meine Quote in den Keller gegangen wäre! Das ist auch schon anderen Spielern zum Verhängnis geworden.
SPOX: Spielt das innerhalb eines Teams wirklich eine Rolle?
Miller: Ja, natürlich. Es gibt heute so viele Möglichkeiten, um zu bewerten, wie gut oder schlecht ein Spieler ist. Ein paar Würfe können deine Quoten sehr beeinflussen und das erste, worauf sich der Stab und das Management dann berufen, sind die Analytics. Alle Entscheidungen, die mittlerweile getroffen werden, haben irgendeinen statistischen Hintergrund, man wird ständig darauf hingewiesen, von wo man werfen soll und von wo lieber nicht, weil dort die Quote nicht gut ist. Das hat jeder im Hinterkopf.
SPOX: Sie sind also kein Fan von den neuen Statistiken?
Miller: Die Analytics schaden dem Basketball. Ich bin davon überzeugt. Basketball ist eigentlich ein instinktives und unkompliziertes Spiel - du bist offen, also wirfst du. Ein Spieler sollte selbst beurteilen können, ob ein Wurf gut oder schlecht ist. Aber jetzt wird dir da von allen Seiten reingeredet und jeder wirft mit irgendwelchen Zahlen um sich. Es ist aber nun mal Basketball, keine Mathematik.
Die Karriere-Statistiken von Andre Miller
Spiele | Minuten | Punkte | Wurfquote | Assists | Rebounds |
1.304 | 30,9 | 12,5 | 46,1 Prozent | 6,5 | 3,7 |
SPOX: Bei wem stimmt Ihrer Meinung nach die statistische Perspektive nicht mit der tatsächlichen Qualität des Spielers überein? Können Sie da ein Beispiel geben?
Miller: Ich habe im Sommer 2017 viel Kritik an den Celtics gehört, weil Leute meinten, Kyrie Irving wäre den Preis nicht wert gewesen. Weil seine Quoten nicht so toll waren, und so weiter. Das fand ich lachhaft - bei einem Spieler wie Kyrie spielen die Zahlen einfach keine große Rolle. Man muss ihn nur spielen sehen und weiß, dass das einer der talentiertesten und besten Jungs in der NBA ist. Die Zahlen, auf die man da von mir aus achten kann, sind Punkte pro Spiel - aber kein Mensch interessiert sich für die Quote. Spielt es etwa keine Rolle, dass Kyrie zum Beispiel viel schwierige Würfe nehmen muss als jemand, der nur in der Ecke steht und offene Dreier nimmt? Kyrie weiß aber zum Glück auch, dass die Quoten egal sind. Deswegen sehe ich ihm auch gerne zu.
SPOX: Haben Sie sonst aktuell "Lieblingsspieler" in der NBA?
Miller: Ja, jede Menge. Ein paar Jungs, mit denen ich zusammengespielt habe, auf jeden Fall auch Russell Westbrook. Ich mag einfach die Spieler, die aus den richtigen Gründen spielen. Ich bin kein großer Fan von denjenigen, denen es nur um den nächsten Vertrag geht und die nur dann hart spielen, wenn die nächste Verhandlung ansteht. Das geht aber nicht nur mir so, sondern vielen Veteranen und Spielern im Ruhestand: Wir haben keinen Respekt vor solchen Spielern, die das große Geld bekommen, ohne es sich vorher verdient zu haben.
SPOX: Gibt es das jetzt mehr als früher?
Miller: Definitiv. Es gab schon immer klassische Contract Year-Player, aber es hat sich jetzt so entwickelt, dass die Spieler zusätzlich auch noch jedes dritte oder vierte Spiel aussetzen und sich schonen, um ja keine Verletzung zu erleiden. Dann siehst du, wie irgendjemand einen Vertrag über 100 Millionen Dollar bekommt, der noch nichts geleistet hat! Es wird für Potenzial gezahlt, nicht für Leistungen. Das war früher anders. Wenn man selbst viel Arbeit investiert hat und dann Leute sieht, die das absolut nicht getan haben, aber diese Deals bekommen, fällt es schwer, das zu respektieren. Man freut sich ja, dass das ganze Geld jetzt verfügbar ist, aber man würde auch gerne sehen, dass es an die richtigen Leute geht.