Die New Yorker Gazetten hatten anfangs ihre Zweifel, doch LeBron James wusste sofort: "Jason Kidd wird den Knicks unglaublich gut tun. Er ist ein Champion, ein zukünftiger Hall of Famer. Und er ist einer der schlauesten Basketballköpfe auf diesem Planeten. Trotz seines hohen Alters kann er deshalb immer noch mit Jungs mithalten, die viel athletischer und schneller sind als er."
In der Tat ist Jason Kidd inzwischen 39 Jahre alt, seine Verpflichtung im vergangenen Sommer wurde von den "New York Daily News" deshalb mit einiger Skepsis betrachtet: "Die Knicks bekommen Kidd zehn Jahre zu spät", schrieb Mitch Lawrence damals, sein Artikel wurde begleitet von einer Fotomontage, auf der Kidd mit Methusalem-Bart zu sehen ist. "Sie haben keine Lösung für die Shooting-Guard-Position und mit Jeremy Lin und Kidd Point Guards, die keine NBA-Starter sind."
Nun veröffentlichten die "Daily News" diesen Artikel, bevor Lin nach Houston wechselte, bevor Raymond Felton aus Portland zurückkam und bevor die Knicks den Argentinier Pablo Prigioni holten. Die Situation der Knicks änderte sich also recht bald, die Meinung über Kidd hatte Bestand.
Als der gebürtige Kalifornier dann am 15. Juli wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen wurde (Kidd hatte mit seinem SUV einen Telefonmast gerammt), goss Kidd nur zehn Tage nach seiner Vertragsunterschrift zusätzlich Öl ins Feuer.
Private Probleme kein Hindernis
Kidd hatte schon in der Vergangenheit private Probleme, war wegen häuslicher Gewalt angezeigt worden und beendete 2007 die Ehe mit seiner ersten Frau Joumana nach einer Schlammschlacht. Mavericks-Besitzer Mark Cuban äußerte, als Kidd die Knicks den Mavericks vorzog, Zweifel an dessen Integrität. Ein völlig neuer Vorwurf. Die Mavs hatten demnach eine mündliche Vereinbarung über einen neuen Vertrag, doch Kidd machte im letzten Moment einen Rückzieher.
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"Das ist einfach falsch", war Cuban verärgert. "Einem solchen Spieler kann ich nicht die Ehre zuteil werden lassen, seine Nummer an die Hallendecke zu ziehen. Bei allem, was er für uns getan hat. Vielleicht komme ich irgendwann darüber hinweg, aber im Moment kommt das gar nicht in Frage."
Die Knicks-Verantwortlichen ließen sich bei aller Kritik an dem Routinier nicht beirren. Sie wussten, sie brauchten nach der durchwachsenen Vorsaison eine stabilisierende Hand im Backcourt. Einen, der ein Spiel lesen und lenken kann, vor allem aber abseits des Courts für einen Mentalitätswandel sorgt.
Unter Mike D'Antoni spielten die Knicks schnellen, aber wenig zielführenden Tempobasketball, sein Nachfolger Mike Woodson stand nicht zuletzt dank seiner Zeit bei den Hawks vor allem für fantasielose Isolation-Plays. In Atlanta hatte er dafür mit Joe Johnson den perfekten Spieler, in New York machte er mit Carmelo Anthony phasenweise so weiter.
Chandler rekrutiert Kidd
Die Schuld daran lag nicht nur bei Woodson, Anthony selbst war schon aus Nuggets-Zeiten als Ballstopper verschrien, als Spieler also, der flüssigem Teamsport mit seiner Art zu spielen entgegensteht. J.R. Smith und Amare Stoudemire waren auch nicht unbedingt als begnadete Passgeber bekannt.
Für nachhaltigen Erfolg war es also unumgänglich, dem Team Uneigennützigkeit einzuimpfen. Das war auch Tyson Chandler bewusst, der Kidd aus gemeinsamen Tagen in Dallas kennt und ihn mit dutzenden Anrufen umgarnte.
"Ich habe ihm erzählt, dass wir hier eine gute Truppe haben", erinnert sich Chandler. "Ich sagte: 'Was fehlt, ist jemand wie Du. Du könntest das entscheidende Puzzleteil sein.'"
Kidd tat sich schwer damit, Dallas zu verlassen, sagte dann aber doch im Big Apple zu. Geld spielte keine Rolle, das Angebot beider Vereine (ca. 9,5 Mio. Dollar für drei Jahre) soll nahezu identisch gewesen sein. Die Rolle des Mentors, die er seit Jahren spielt, übernahm Kidd auch in New York vom ersten Tag an wie selbstverständlich.
Kidds Rolle im Wandel
Er ist sicher nicht allein verantwortlich für die Metamorphose, die in kurzer Zeit Anthony vom Egozocker zum MVP-Kandidaten hat reifen lassen. Aus Spielerkreisen hört man aber, dass sein Einfluss gar nicht hoch genug zu bewerten ist. Auch Smith passt den Ball inwzischen mit einer Freude, als hätte er seine gesamte Laufbahn nie etwas anderes getan.
Auch Kidds eigene Rolle auf dem Court hat sich über die Jahre völlig geändert. Einst der beste Point Guard auf dem Planeten, mit einem unvergleichlichen Tempo im Fastbreak und einem unbändigen Drang zum Korb, ist der Oldie heute ein ganz anderer Spieler.
"Ich war immer stolz auf meine Defense", beschreibt Kidd neben seinen Spielmacherqualitäten die zweite große Stärke, die er schon als junger Spieler mit in die NBA brachte. "Aber man kommt an einen Punkt, wo einen das Alter einholt, wo man sich umstellen muss."
Schon 2005 merkte Kidd das Alter: "Ich konnte das Tempo nicht mehr mitgehen wie gewohnt." 2005, das ist über sieben Jahre her. Aber da war Kidd immerhin schon 32 Jahre alt. "Ich wusste: Wenn ich weiter auf höchstem Niveau spielen will, musste ich meinen Wurf verbessern."
Vom Spielmacher zum Shooting Guard
Kidd arbeitete mit Shooting-Gurus an seiner Wurftechnik und erzielte schnell erstaunliche Ergebnisse, speziell von der Dreierlinie. Jahr für Jahr wurde Kidd aus der Distanz stabiler, nach seinem Trade nach Dallas 2008 traf er drei Jahre in Folge über 40 Prozent seiner Dreier.
So war er nicht mehr auf seine - stark abnehmende - Stärke, zum Korb ziehen zu können, angewiesen - und blieb für sein Team unverändert wertvoll.
Inzwischen ist Kidd als Schütze so verlässlich, dass Woodson ihn als Shooting Guard aufstellt. Felton zieht überwiegend die Fäden, Kidd ist häufiger Vollstrecker als Passgeber. In der Defense kam der körperlich robusten aber zunehmend fußlahmen Nummer 5 dieser Wechsel sogar entgegen.
Seine furiosen Fastbreaks sind Geschichte, aber noch immer kann er, wenn möglich und nötig, auf das Tempo drücken. Kidd ist weiter einer der besten Rebounder auf den Guard-Positionen und kann mit einem einfach Outlet-Pass schnelle Punkte generieren.
Karrierebestwert bei den Ballverlusten
Er tut dies aber mit mehr Bedacht als früher: Kidd war immer schon ein Spieler, der mit hoher Risikofreudigkeit agierte - und dabei viele Turnoverzahlen in Kauf nahm. Im zweiten NBA-Jahr hatte er mit 4,0 Ballverlusten im Schnitt in der Hinsicht seine schlimmste Saison, auch später kam er selten auf weniger als 3 Turnover pro Spiel.
In New York produziert er in immerhin noch knapp 30 Minuten Spielzeit lediglich 1,2 Turnover - für einen Guard ein exzellenter Wert und mit Abstand der beste seiner Karriere.
Als Team verschenken die Knicks pro Spiel 11,1 Mal den Ball. Kein anderes Team ist besser, auch in der Hinsicht war und ist Kidd also ein absoluter Gewinn.
"Ich bin körperlich nicht mehr auf der Höhe, Basketball ist für mich zur Kopfsache geworden. Darauf kann ich mich auch im hohen Alter noch verlassen", sagt Kidd selbst.
"Das Alter ist nur eine Zahl"
Genau für diesen Basketball-Sachverstand bekommt Kidd aus allen Richtungen großes Lob. Chris Paul meint: "Er ist ein Teamspieler, er tut alles, was die Mannschaft braucht und der Trainer verlangt. Er kann Dir immer noch 24 gute Minuten geben, aber er will mehr, weil er so eine Leidenschaft für den Basketball hat."
76ers-Coach Doug Collins sagte nach einer Pleite gegen die Knicks über Kidd und den auch nur ein Jahr jüngeren Steve Nash: "Sie sind Basketball-Genies. Wenn man so schlau ist, verbraucht man weniger Energie, weil man immer weiß, wo man stehen muss."
Kidd selbst wehrt sich gegen die Lobhudelei, beschreibt stattdessen Felton als "Motor des Teams" und Anthony als "einen der besten Spieler der Liga".
Doch selbst Mitch Lawrence von der "Daily News" weiß inzwischen: "Er treibt das Team an, er guckt die Defense aus und trifft zu jeder Zeit die richtige Entscheidung. Bei Kidd ist das Alter nur eine Zahl."
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