In dieser Saison gelangen Giancarlo Stanton, J.D. Martinez und Co. rund 40 Prozent mehr Homeruns als noch vor drei Jahren. Sprach man im Jahr 2014 noch vom "Jahr der Pitcher", so steht dieses Jahr definitiv im Zeichen der Big Hitter. Am 19. September, fast zwei Wochen vor dem Ende der Regular Season, schlug Alex Gordon von den Kansas City Royals den 5.694. Homerun der Saison. Und stellte damit eine neue Bestmarke auf.
Der Anstieg der Homerun-Zahlen zieht sich durch die gesamte Liga und lässt sich nicht einfach damit erklären, dass einige Stars oder Rookies wie Aaron Judge ein gutes Jahr erwischten.
Auf der anderen Seite des Balles wundern sich Pitcher wie Jake Arrieta von den Chicago Cubs: "Ich bekomme Bälle rausgeschlagen, sowas habe ich bis zu diesem Jahr nicht gesehen!"
Auch Experten suchen schon seit geraumer Zeit nach den Gründen für den Anstieg an Homeruns und kommen häufig zum selben simplen Grund für die Entwicklung: den Baseball.
Verschwörungstheorien um MLB-Commissioner Rob Manfred
"Ich verstehe, dass den Leuten Verschwörungstheorien gefallen", sagte League Commissioner Rob Manfred, angesprochen auf den Homerun-Rekord. "Aber ich wünschte, ich wäre intelligent und effektiv genug, so eine Veränderung durchzuführen."
Manfred und die Liga könnten die Bälle bewusst verändert haben, um das Spiel spektakulärer zu machen und so höhere Einschaltquoten zu generieren.
Baseball-Journalist Ben Lindbergh und Sabermetrician Mitchel Lichtman versuchen am eíndrücklichsten, dies zu beweisen. Sie führten in einer weit beachteten, vom Internet-Portal The Ringer veröffentlichten Studie innovative Tests an den Spielgeräten durch, um die aktuellen Entwicklungen zu erklären.
Die beiden ersteigerten dafür zuerst 36 in der MLB verwendete Bälle auf eBay: 26 Stück stammten aus dem Zeitraum von Mai 2014 bis September 2015, die restlichen zehn Stück wurden von Mai bis Juli 2016 bespielt.
Qualitätstests erklären Homerun-Rekord
Im Sports Science Center der Washington State University ließen sie die Baseballs auf Größe und Gewicht testen, aber auch kleinere Details wie die Höhe der abstehenden Nähte.
Diese entstehen durch einen über zwei Meter langen, mit Wachs überzogenen Faden, der die zwei zugeschnittenen Stücke Kuhleder auf der obersten Schicht eines Baseballs zusammenhält. Die Oberfläche, die durch diesen langen Faden entsteht, bremst den Ball beim Flug durchs Stadion.
Außerdem testeten die beiden den "Restitutionskoeffizienten", eine Maßzahl für den Abprall des Balles. Sie schossen die Bälle mit exakt 120 Meilen pro Stunde in einen Stahlzylinder und beobachteten die Absprunghöhe. Je höher der Ball absprang, umso weiter würde er auch durch einen Ballpark fliegen.
Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: Die "jüngeren" Bälle waren allesamt kleiner und dadurch leichter, hatten kürzere Nähte und sprangen höher ab.
Aktuelle Bälle fliegen weiter
In einem weiteren Schritt verwendeten die Wissenschaftler eine Computersoftware, die ihnen erlaubte, Flugbahnen von Baseballs mit unterschiedlichen Charakteristika zu simulieren.
Im Vergleich zu den älteren Bällen flogen die Spielgeräte aus 2016 im Schnitt um etwas mehr als zwei Meter weiter. Baseball-Physiker Alan Nathan berechnete: Wenn alle Bälle im Schnitt um diese Distanz weiter geschlagen werden, würde die Anzahl an Homeruns um 25 Prozent ansteigen.
Da solche Bälle das Spiel in Hinsicht auf mögliche Homeruns deutlich reizvoller machen, spricht man in der MLB-Szene von "Juicy Balls".
Pitcher von MLB enttäuscht
Auch Pitcher Justin Verlander von den Houston Astros hat die Studie gelesen, und sieht sich in seiner Wahrnehmung auf dem Feld bestätigt. "Da verlassen ein paar Bälle das Stadion, die das eigentlich nicht sollten", sagt Verlander.
"Ich wünschte mir einfach, die MLB gäbe es zu und würde sagen: 'Ja, wir wollten mehr Offense sehen.' Wir Pitcher wollen wissen, warum die Homeruns so in die Höhe schießen."
Lindbergh und Lichtman wollen zumindest einen Faktor gefunden haben: Größe, Gewicht, Nähte und Abprall erklären einen Teil des Anstiegs an Homeruns in den letzten Jahren.
Aber noch nicht den ganzen.
Luftwiderstand entscheidet über Flugbahn eines Baseballs
Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Oberflächenbeschaffenheit, die übrigens auch im Golfsport genau untersucht wird. Um diese zu beobachten, bedarf es keiner Experimente im abgeriegelten Labor.
Geschwindigkeitsmessungen von Pitches werden in der MLB sowohl am Mound als auch an der Home Plate durchgeführt. Etwaige Unterschiede geben einen Aufschluss darüber, wie sehr ein Ball durch den Strömungswiderstand abgebremst wird.
Physiker Nathan berechnete den Luftwiderstand anhand von Daten für die Jahre 2013 bis 2017, und zeigte, dass eine starke Korrelation zwischen Geschwindigkeitsunterschieden und Anzahl an Homeruns besteht.
Bei einem gut geschlagenen Fly Ball könnte laut Nathan ein luftschlüpfrigerer Baseball aus 2017 bis zu eineinhalb Meter weiter fliegen als ein "Bremser" aus dem Jahr 2014.
Schränkt man die Untersuchung auf Pitches ein, die in einer Halle wie dem Ballpark in Tampa Bay geworfen wurden, ändert dies nichts an dem Ergebnis.
Diese Ergebnisse sind allesamt statistisch signifikant, die Möglichkeit, dass die Anzahl der Homeruns durch puren Zufall so hoch sind, ist ausgeschlossen.
MLB hält sich bedeckt
Die Offiziellen der MLB haben dementiert, absichtliche Änderungen am Spielgerät in Auftrag gegeben zu haben. Hersteller Rawlings, der die Bälle für die MLB seit 1987 in Costa Rica per Handarbeit produziert, steht zu keinerlei Stellungnahmen bereit.
Die MLB hält außerdem daran fest, dass die verwendeten Bälle stets im Rahmen des Regelwerks liegen. Dieses ist aber so großzügig ausgelegt, dass noch viel größere Unterschiede möglich wären.
Der Ball soll laut den Official Baseball Rules zwischen 5 und 5 1/4 Ounces Avoirdupois (141,75 bis 148,83 Gramm) wiegen. Der Durchmesser wird mit 72,64 bis 74,68 Millimeter beschränkt. Was zunächst nach einem engen Korridor klingt, kann einen großen Effekt auf einen Schlag haben.
Dies hat die MLB selbst in einer Studie aus dem Jahr 2000 zugegeben: Die Regularien machen es möglich, dass zwei unterschiedliche Bälle zugelassen wären, wo einer beim selben Schlag um insgesamt 15 Meter weiter fliegen würde als der andere. Dies lässt einen großen Spielraum für die Liga, das Spiel laufend aktiv nach eigenen Wünschen zu verändern.
Ein Dorn im Auge ist den Verantwortlichen eine weitere Veränderung der letzten Jahre.
Auch Strikeouts gestiegen
Da auch Spieler davon Wind bekommen haben, dass ein Fly Ball um einige Meter weiter fliegt als noch ein paar Jahre zuvor, könnte das in Sachen Schwung zu mehr Risiko animieren. Dieses Risiko wird nicht immer belohnt. Dazu kommen neue Strategien, immer mehr "Uppercut"-Schwungbewegungen, oder auch immer mehr und härter werfende Relief Pitcher.
Zum zehnten Mal in Folge wird in dieser Saison deshalb der Rekord an Strikeouts gebrochen: In diesem Jahr wird man die Marke von 40.000 Strikeouts knapp verpassen. Zum Vergleich: In der Saison 2007 erzielten die Teams noch rund 32.000 Strikeouts.
Einige Fans und Beobachter fürchten daher, dass das Spiel zunehmend unattraktiver wird, da die vielen Strikeouts für wenig Action sorgen - der Ball ist einfach seltener im Spiel. Veränderungen an den Bällen lassen aber wie erwähnt Spielraum für Adaption.
"Die wichtige Frage ist jedoch, wie die Fans die ganze Geschichte sehen", sagte Commissioner Manfred im Gespräch mit Yahoo Sports. "Den Fans gefallen die vielen Homeruns, aber sie mögen auch die Strikeouts, deshalb ist es ganz egal, ob wir von der MLB diese Meinung teilen."
Der Baseball-Sport hat immer Phasen gehabt
Die Zukunft wird weisen, in welche Richtung sich der Sport entwickelt. Der Sport hat in seiner fast 150-jährigen Geschichte immer wieder Phasen durchgemacht. Mal dominierte das Hitting, dann wieder das Pitching. Das muss nicht nur an den Regeln oder den Bällen liegen, schließlich passen sich Pitcher und Hitter aneinander an - es ist ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel.
Klar ist, dass die Liga-Kommission theoretisch die Werkzeuge besitzt, das Spiel zu verändern oder ihm zumindest einen leichten Stoß in die eine oder andere Richtung zu geben. Daran ist nichts Verwerfliches: Jeder Sport legt sein Werkzeug nach dem maximalen Unterhaltungswert fest.
Die Spieler werden die Entwicklungen auf jeden Fall ganz genau im Auge behalten: Fliegen die Bälle auch in den nächsten Jahren weiter als gewohnt? Geht der Trend weiter zu noch mehr Strikeouts? Oder haben sich die Statistiken 2018 wieder "eingependelt"?
So oder so: An Herausforderungen mangelt es dem Sport ganz sicher nicht.
Dieser Artikel wurde ohne vorherige Ansicht durch die Major League Baseball veröffentlicht.