Dieser Artikel wurde erstmals im August 2016 veröffentlicht
Gespenstische Stille in der Gewichtheber-Halle von Peking. Die Zuschauer erwarten den letzten Versuch im Zweikampf der stärksten Männer der Welt. Die Aufgabe für Matthias Steiner ist eigentlich aussichtslos. Satte 258 Kilogramm liegen auf. Zehn Kilo mehr als bei seinem zweiten Versuch. Die Bronze-Medaille hat er sicher, doch er will mehr.
Steiner erinnert sich an die Worte seines Coachs Frank Mantek: "Die ganz großen Athleten zeichnet eines aus: Sie haben zwar viele Wettkämpfe, aber nur wenige, in denen es nur einen Versuch gibt, der alles entscheidet. Vielleicht hast du in deinem Leben nur einen Versuch, der dein Leben verändern kann und diesen musst du nutzen." Das Crescendo von Whitney Houstons Olympia-Hit "One Moment in Time" schwingt im Hinterkopf mit.
Der entscheidende Stoß
Steiner pusht sich auf der Bühne und visiert die Hantel an. Noch einmal tief durchatmen. Er geht in die Knie, sucht seinen Griff.
Steiner plustert seine Backen auf, wie man es sonst nur von Oliver Kahn kannte. Zunge raus. Alle Kraft nur in diesen einen Versuch.
Er legt die Hantel auf die Brust um und baut sich aus der Kniebeuge heraus auf. Nur noch aufstoßen, dann hat er Gold!
Spreizschritt. Mit letzter Kraft drückte er die Arme durch und lässt die Hantel nach vorne fallen. 'Ich bin Olympiasieger!'
Er sinkt zu Boden, das Gesicht verzerrt vom Schmerz und der Freude. Er fällt frontal über die Hantel und klopft auf den Boden. Er kann es nicht fassen. Trainer Mantek eilt auf die Bühne, zusammen springen sie wie zwei Rumpelstilzchen auf und ab, fallen sich in die Arme. Sie schreien den angesammelten Druck heraus, es ist der schönste Moment in Steiners Karriere. Doch er muss ihn allein erleben.
Schwerer Schicksalsschlag
Steiners Geschichte ist nicht nur wegen seines unfassbaren Wettkampfs ein Stoff für Helden. Sie ist nebenbei auch unendlich tragisch. Nur ein Jahr vor dem Triumph bei Olympia 2008 schien das Leben des Gewichthebers sinnlos. Im Juli 2007 musste der damals 25-Jährige den härtesten Schicksalsschlag in seinem Leben verkraften: Seine Frau Susann kam bei einem Autounfall ums Leben. Ein 57-Jähriger kam auf die Gegenseite und rauschte in ihr Auto. Alle Rettungsmaßnahmen im Krankenhaus kamen zu spät.
"Ich stand vor der Entscheidung, ob ich Gewichtheben bleiben lasse oder weiter mache. Aber ich realisierte, es ändert sich nichts mehr, sondern es wird mich mein Leben lang begleiten", sagte Steiner. Er münzte daraufhin seine tiefe Trauer in Antrieb und Motivation um.
Bei der Siegerehrung in Peking kommt es zur Szene der Spiele. Steiner posiert mit dem Foto seiner verstorbenen Frau auf dem Podest. In der einen Hand präsentiert er seine Goldmedaille in der anderen das Konterfei seiner verunglückten Gattin.
"Am Sterbebett habe ihr versprochen, dass ich für sie Gold holen will in Peking", sagte Steiner und widmete, von den Emotionen sichtlich überwältigt, den Triumph Susann: "Sie wollte eigentlich mitkommen nach Peking. Damit wollte ich eigentlich nur für mich der Welt zeigen, dass ich nicht alleine hier oben stehen will."
Österreicher unter deutscher Fahne
Ein großer deutscher Sportmoment eines gebürtigen Österreichers. Steiner wurde 1982 in Wien geboren. Nach Querelen mit dem österreichischen Verband, die Steiner Unsportlichkeit attestierten - O-Ton: ÖGV-Vize-Präsident Martin Schödl: "Mir egal, ob Steiner künftig für Schweden, Deutschland, Kasachstan oder Teppichland startet" - und nach seiner Heirat mit Susann im Jahr 2005 beantragte Steiner die deutsche Staatsbürgerschaft.
Erst Anfang des Olympiajahres wurde der Einbürgerung, die sich nach dem Unfall seiner Frau noch einmal verzögerte, endgültig stattgegeben. Durch die Silber-Medaille bei der EM 2008 in Lignano qualifizierte Steiner sich für das Großereignis im August desselben Jahres. In Peking sollte er dann den Wettkampf seines Lebens absolvieren.
Starker Auftakt im Reißen
Beschwingt durch den Olympia-Sieg von Jan Frodeno machte sich Steiner am 19. August auf den Weg in Richtung Gewichtheber-Halle. Der damals 25-Jährige sog die Atmosphäre und Anspannung in der Halle bewusst auf. Steiner beobachtet die "anderen grimmig dreinschauenden Bären" und war doch in seiner eigenen Konzentrationsphase voll drin.
198 Kilogramm im ersten Versuch? Kein Problem für den Deutschen. Fünf Kilogramm mehr und persönliche Bestleistung im Reißen. Doch dann kamen die Probleme. Die Aussicht auf eine Medaille nistete sich im Kopf ein und Steiner schien die Konzentration flöten zu gehen.
Der dritte Versuch ging völlig in die Hose und hätte beinahe so ausgehen können, wie vier Jahre später, als er die Hantel nicht mehr stemmen konnte und diese ihm auf das Genick fiel. "Ich war zu diesem Zeitpunkt aus dem Wettkampf heraus", erinnerte sich Steiner, obwohl er als Vierter noch alle Trümpfe in der Hand hielt.
Problem in der Paradedisziplin
Eigentlich kein Problem, denn seine Paradedisziplin, das Stoßen, stand ja noch auf dem Programm. Beim Aufwärmen jedoch die Schrecksekunde. Steiner musste 235 Kilo hinter der Bühne fallen lassen. "Ich war immer noch mit dem Kopf beim Reißen. Doch dann musste ich auf die Bühne, es ging alles Schlag auf Schlag", berichtete er später. Der Deutsche hatte noch "gar keine Luft für den Versuch".
Die aufgelegten 246 Kilo fielen ihm hinten herunter. Ausgerechnet im ersten Versuch, den er sonst immer im Schlaf bewältigte. Coach Frank Mantek redete auf Steiner ein, machte ihm klar, dass ein gültiger Versuch eine sichere Medaille bedeuten würde.
Das legte wohl den Schalter bei Steiner um, mit Edelmetall vor Augen wuchs er über sich hinaus. Er stemmte die 248 Kilogramm-Hantel für einen gültigen Versuch in die Höhe. Bronze war sicher.
An seine Bestleistungen, die er an diesem Tag aufgestellt hatte, kam der Gewichtheber nie wieder heran. Zwei Jahre holte er sich den Titel im Stoßen, im Zweikampf reichte es für Silber.
Seinen Titel konnte er in London wegen des missglückten Versuches nicht verteidigen. Privat dagegen lief es besser bei Steiner. 2012 heiratete er die Fernseh-Moderatorin Inge Posmyk und ist seitdem häufiger in TV-Shows zu sehen. Seine Karriere beendete er 2013. Mit dem größten Triumph im Gepäck.