Ihr großer Moment dauerte keine 20 Sekunden. Und doch wurden sie auch Jahre später noch erkannt. Es folgten zahlreiche Auftritte in TV-Shows. Werbe-Deals wurden abgeschlossen. In Las Vegas strömten einst gar tausende Menschen zu einer Ausstellung, obwohl sie die ganze Zeit von dickem Glas beschützt wurden.
Jeder wollte sie einmal sehen. Die goldenen Schuhe, die Michael Johnson in die Geschichtsbücher der Olympischen Spiele trugen.
Dabei verdient ihr Besitzer mindestens genauso viel Aufmerksamkeit. Nicht nur wegen seines Schuhwerks. Als Usain Bolt noch als Fußballer die Straßen seiner Heimatstadt Sherwood Content unsicher machte, galt Johnson als Dominator der Leichtathletik-Szene.
Der Nachfolger von Jesse Owens
Superman, der legitime Nachfolger von Jesse Owens, oder einfach nur der schnellste Mann auf diesem Planeten - seine Herrschaft auf der Tartanbahn war überwältigend.
Und die Olympischen Spiele 1996 sollten zu seiner großen Bühne werden. Der Druck, der auf Johnson lastete, war immens. Er sollte in Atlanta eines der Aushängeschilder werden.
"Ich war Druck gewöhnt. Aber in Atlanta hat er mich fast erdrückt", blickte er im Gespräch mit der "BBC" zurück.
Bittere Momente bei Olympia
Doch Johnson hatte auch persönlich noch eine Rechnung mit Olympia offen. 1988 zog er sich eine Stressfraktur des Schienbeins zu und konnte sich dadurch bei den Trials nicht für Seoul qualifizieren.
Vier Jahre später setzte das Schicksal sogar noch eins drauf: Johnson war als amtierender Weltmeister über 200 Meter der große Favorit. Doch eine Lebensmittelvergiftung machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
Johnson trat trotzdem an - und ging im 200-Meter-Halbfinale als Sechstplatzierter unter. Das Staffelgold wenige Tage später war da nur ein geringer Trost.
Sein Auftrag: Olympia-Gold
Dass er in den Jahren darauf der Konkurrenz sowohl über 200 Meter als auch über die Stadionrunde häufig die Hacken zeigte, festigte zwar seine Ausnahmestellung. "Jedes Jahr habe ich mir ein Ziel gesetzt. Das Wichtigste dabei: immer einen Schritt vor den anderen setzen", so Johnson.
Doch die Hassliebe zu Olympia blieb. Bis Atlanta. Sein Auftrag war klar. Sollte es noch irgendwelche Zweifel gegeben haben, wischte sein Ausstatter diese endgültig vom Tisch.
Eine TV-Werbung war der erste Auftritt der goldenen Schuhe, die Johnson zum erhofften Triumph führen sollten. Oder wie es "NIKE" ausdrückte: "Es ist sein Schicksal."
Wie einst Hermes
"Flo-Jo (Florence Griffith-Joyner, Anm. d. Red.) trug dieses verrückte einbeinige Outfit. Aber sie hat's halt auch drauf gehabt. Carl Lewis' Naturell war nicht gerade einfach. Aber auch er konnte es sich leisten. Warum also keine goldenen Schuhe?", so Johnsons Kumpel und Zehnkämpfer Dan O'Brien.
Die Schuhe hatten etwas Mystisches. In der griechischen Mythologie verteilte einst Hermes mit seinen fliegenden Sandalen Botschaften an die Götter. Nun waren es Johnson und seine goldenen Schuhe, die an das irdische Volk eine eindeutige Botschaft verteilten: Die Medaille wird die Farbe der Schuhe haben.
Das Problem an der Sache: Die griechische Mythologie hat eine Vorliebe für tragische Momente. Davon hatte Johnson bei Olympia einige erlebt.
Johnson bricht US-Rekord
Doch diesmal sollte alles anders werden. Bereits bei den Trials pulverisierte er den Weltrekord über 200 Meter von Pietro Mennea, der 17 Jahre lang gehalten hatten.
Es sollte nicht die letzte Bestmarke gewesen sein. Als Johnson über die Stadionrunde endlich sein erstes Einzelgold holen konnte, hörte man den Stein, der ihm vom Herzen fiel.
Doch bereits damals war klar: Sein klarer Erfolg samt neuem Olympischen Rekord (43.49) sollte nicht mehr als die Vorspeise sein. Der Hauptgang folgte drei Tage später.
Johnson: "Ich bin gestolpert"
Es war der 1. August 1996. Der Tag des Endlaufs über 200 Meter. Noch heute erzählen Journalisten, Athleten und Zuschauer von einer beängstigenden Stille, als Johnson sich zu den Startblöcken aufmachte.
Auch dem großen Favoriten war die Anspannung anzumerken. Nicht ohne Grund: Mit Frankie Fredericks und Ato Boldon warteten seine Dauerrivalen nur auf einen Fehler. Gerade Fredericks sah seine Chance, nachdem er Johnson kurz vor Olympia in Oslo geschlagen hatte.
Blitzlichtgewitter, der Startschuss - und fast hätte Johnson bereits nach einige Metern seinen großen Traum vom Doppel-Gold wieder begraben können.
19,32 - Weltrekord!
"Ich bin gestolpert - habt ihr das gesehen? Bei meinem vierten Schritt, aber ich konnte es gerade noch hinbiegen", gab Johnson nach dem Rennen zu.
"Hinbiegen" ist gut gesagt. Johnson zerstörte die Konkurrenz, stellte mit 19,32 Sekunden einen neuen Weltrekord auf und erklomm endgültig den Sport-Olymp. Seine Gegner wurden zu sprachlosen Statisten degradiert.
Während Fredericks einfach nur den Kopf schüttelte, sorgte Boldon mit Blick auf die Anzeigetafel für ein legendäres Zitat: "19,32! Das ist doch keine Zeit. Das hört sich eher an wie der Geburtstag meines Vaters."
"Dieser Kerl ist nicht von dieser Welt"
David Coleman, der damalige "BBC"-Kommentator, sprach nach dem Lauf das aus, was wohl jeder im Stadion dachte: "Dieser Kerl ist nicht von dieser Welt."
Johnsons Doppel-Gold über 200 und 400 Meter - eine Leistung, die zuvor niemandem gelungen war - versetzte das komplette Olympic Stadium in ungläubiges Staunen. Wie kann ein Mensch nur so schnell laufen? Und dann auch noch mit diesem Laufstil?
Als hätte er einen Besenstil verschluckt, flog er - den Rücken gerade - mit vielen kleinen Schritten über die Tartanbahn. Damit trotzte er dem herkömmlichen Wissen, dass das hohe Anheben der Knie für maximale Geschwindigkeit unerlässlich sei.
Stakkato-Stil wie ein Boxer
Sein Stakkato-Stil wurde immer wieder mit einem Boxer verglichen, der einen Sandsack mit schnellen, kurzen Schlägen traktiert. Im Gegensatz zu den meisten Boxern verpasste Johnson den Absprung allerdings nicht. In Sydney schnappte er sich noch mal Gold über 400 Meter, nachdem er sich in den letzten Jahren seiner Karriere vorrangig auf die Stadionrunde konzentriert hatte, und beendete im Anschluss seine Karriere.
Für O'Brien bleibt er aber weiter unvergessen: "Michael Johnson war auf dieser Erde, um zu laufen. Mir ist es egal, ob er einen Golfball trifft. Und ich bezweifle, ob er dunken kann. Aber verdammt noch mal, er war zum Laufen geboren!"
Dass ein gewisser Usain Bolt 2008 seinen 200-Meter-Weltrekord brach, nahm Johnson übrigens mit einem Lächeln hin. Spätestens dann wurde ihm bewusst: Ruhm und Rekorde sind vergänglich. Nur seine goldenen Schuhe sind für die Ewigkeit.