Die Champagner-Bar hatte schon geschlossen, aber irgendwie mussten die jüngsten Erfolge ihrer Tochter Angelique ja schließlich begossen werden. Die Wahl fiel auf Whisky-Cola, "das trinke ich eh lieber", sagte die Mutter der weltbesten Tennisspielerin, noch immer "nass geschwitzt vor Aufregung und unheimlich stolz" auf ihre Angie.
Beata Kerber und ihre Begleiter mussten mit den aufwühlenden Ereignissen zunächst alleine fertig werden, Angelique (28) hatte auch lange nach ihrem Finaleinzug bei den US Open noch nicht Feierabend. Jeder wollte ein Stück von ihr, immer wieder musste sie erzählen, wie es sich anfühlt, ab Montag die neue Nummer eins der Welt zu sein. Die Postfächer in ihrem Handy quollen über vor Nachrichten. "Ich weiß gar nicht, was ich damit machen soll", sagte die Kielerin.
Ob sich unter all den Glückwünschen auch einer ihres Kindheitsidols Steffi Graf befand, konnte Kerber zu diesem Zeitpunkt also noch nicht wissen, doch sie ahnte: "Steffi ist bestimmt stolz auf mich." Immerhin erobert sie 19 Jahre nach Graf als erst zweite Deutsche überhaupt den Tennis-Thron, auf dem zuletzt die große Serena Williams saß. Es war genau das von Kerber erträumte Szenario, wie sie dem SID unlängst in einem Interview verraten hatte: "Es wäre das i-Tüpfelchen, wenn mir der Sprung an die Spitze gelingen würde, solange Serena noch aktiv ist."
20 Jahre nach dem letzten US-Open-Titel von Steffi Graf hat Angie Kerber nun außerdem noch die Chance, ein weiteres Mal in die riesigen Fußstapfen der "Gräfin" zu treten. Am Samstag (22.00 Uhr) wartet im Finale eine Spielerin, der Kerber eigentlich dankbar sein müsste. Karolina Pliskova aus Tschechien hatte die angeschlagene Williams überraschend mit 6:2, 7:6 (7:5) bezwungen und damit das Ende der 186 Wochen andauernden Regentschaft des US-Superstars besiegelt.
"Du bist die Nummer eins, aber jetzt musst du dich vorbereiten"
Kerber verfolgte den Moment des Matchballs um 20.47 Uhr Ortszeit im Aufwärmraum mit ihren engsten Vertrauten, Trainer Torben Beltz und Physiotherapeutin Cathrin Junker. "Es war ganz komisch, alle haben geschwiegen", erzählte sie. Beltz unterbrach die Stille: "Du bist die Nummer eins, aber jetzt musst du dich vorbereiten."
Nichts kann Kerbers Entwicklung in den letzten zwölf Monaten so präzise beschreiben, wie das, was dann passierte. War sie im vergangenen Jahr beim WTA-Finale noch an der Aussicht zerbrochen, nur einen einzigen Satz statt eines ganzen Matches gewinnen zu müssen, um das Halbfinale zu erreichen, drückte sie nun alle Emotionen weg. Das 6:4, 6:3 gegen die Dänin Caroline Wozniacki, eine von Kerbers 21 Vorgängerinnen an der Spitze der Weltrangliste, war nie gefährdet. Und das hatte einen Grund: "Ich wollte nicht mit einer Niederlage die Nummer eins werden. Das hat mich umso mehr motiviert."
Nach sechs Spielen ohne Satzverlust in Flushing Meadows, ungezählten Fragen nach der bevorstehenden Wachablösung und einer passenden Antwort ist Kerber bereit, ihr Werk im dritten Grand-Slam-Finale der Saison zu krönen. Zumal noch eine Rechnung mit Pliskova offen ist. Vor drei Wochen beim Turnier in Cincinnati/Ohio verlor Kerber, geschwächt durch ihr mit Silber gekröntes Olympia-Abenteuer in Rio, glatt in zwei Sätzen und vergab damit ihre erste Chance, sich den Traum vom Tennis-Thron zu erfüllen.
"Damals war ich wirklich müde", sagte Kerber. Diesmal wird sie dank des freien Freitags und ihres täglichen Bades in der Eistonne und beflügelt von der magischen Nacht Pliskova bestens vorbereitet gegenübertreten. Wie auch immer es ausgeht: Am Samstagabend wird die Familie Kerber gemeinsam auf ein denkwürdiges Turnier anstoßen. Mit Getränken ihrer Wahl.
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