Als Lance Armstrong kurz nach elf Uhr vom Hof des Chalet Le Cret im Alpenstädtchen Morzine rollte, herrschte der Ausnahmezustand. Hunderte Fans, ein Dutzend Kamerateams und an die 50 Photographen standen Spalier.
Einen Tag, nachdem das schier Unfassbare passiert war, als der einstige Dominator der Tour de France die bitterste Stunde seiner Karriere erlebt hatte, richteten sich nochmal alle Augen auf den gefallenen Star.
Sagen wollte der alternde Star freilich nichts. Antworten auf das, was sich tags zuvor auf den Rampen zur Skistation Avoriaz hinauf ereignet hatte, hätte der 38-Jährige eh nicht liefern können. So verteilte Armstrong lieber in gewohnter Routine ein paar Autogramme an seine treuen Fans, die wieder zuhauf mit ihren Livestrong-Shirts und Armbändern gekommen waren.
Für sie bleibt Armstrong der Größte - trotz des Einbruchs auf der ersten Hochgebirgsetappe mit fast zwölf Minuten Rückstand auf den Tagessieger Andy Schleck und trotz der anhaltenden Doping-Anschuldigungen aus seiner Heimat, die den RadioShack-Kapitän auf seiner letzten Tour de France auf Tritt und Schritt verfolgen.
Team steht hinter Armstrong
"Ich fühle mich ein wenig eingerostet, aber ich versuche, meine letzten zwei Wochen zu genießen", teilte der Texaner indes über sein Propaganda-Organ Twitter mit. Aufgeben wolle er nicht.
Diese Blöße, die Tour durch den Hinterausgang zu verlassen, wo er sie doch sieben Jahre beherrscht hatte, will sich Armstrong nicht geben. Ein Etappensieg sei vielleicht noch möglich und außerdem könne er dem Team noch helfen.
Armstrongs Debakel zum Nachlesen
Sein Team, das stets bedingungslos hinter Armstrong stand, konnte ihm am Sonntag nicht mehr helfen. Bereits am vorletzten Anstieg war Armstrong - zermürbt von drei Stürzen - abgehängt worden. "So etwas zu sehen, ist sehr traurig", meinte sein Mentor Johan Bruyneel. "Aber so ist der Sport."
Schleck will in Paris oben stehen
Wenige hundert Meter von Armstrongs Hotel entfernt hat sich das Team Saxo-Bank einquartiert. Ruhig, wie immer, geht es zu. Dass hier Andy Schleck, der mögliche nächste Toursieger wohnt, ist kaum zu ahnen. Der Luxemburger hatte am Vortag die Etappe gewonnen und dabei seinem Rivalen Alberto Contador zehn Sekunden abgeknöpft.
Auch wenn der Australier Cadel Evans das Gelbe Trikot derzeit trägt, ist der Vorjahreszweite zuversichtlich. "Ich will in Paris oben stehen. Schritt für Schritt gehen wir unseren Weg weiter", sagt der Youngster.
20 Sekunden liegt er hinter Evans, aber 41 vor Toursieger Contador. Es bestehe kein Grund zur Panik, betont Contador. Er fühle sich gut. Er habe nur wenige Sekunden verloren. Das kann Armstrong nicht von sich behaupten, 13:26 Minuten zurück liegt er auf dem 39. Platz im Gesamtklassement.
Neue Doping-Details und Ermittlungen
Dementsprechend bestimmte Armstrongs Desaster auch die Schlagzeilen der französischen Blätter. "Armstrong in Seenot", hieß es in der "L'Equipe" und "Aujourd'hui" schrieb: "Armstrong, es ist wirklich aus." Und "France-Soir" titelte: "Armstrong, der unaufhaltsame Verfall."
13 Etappen bleiben Armstrong nun, um sich von Frankreich gebührend zu verabschieden. Ob er die restlichen 2072,1 Kilometer bis Paris wirklich genießen kann, bleibt indes fraglich.
Zu den sportlichen Rückschlägen - Armstrong hatte bereits auf dem Kopfsteinpflaster zwei Minuten eingebüßt - gesellen sich fast täglich neue Details im Zuge der massiven Doping-Anschuldigungen und Ermittlungen gegen ihn.
Angebliche Mail von Verbruggen an Landis
Das blieb auch am Ruhetag nicht aus. So berichtete die US-Zeitung "New York Daily News" über pikante Emails vom früheren UCI-Chef Hein Verbruggen an Landis.
"Herr Landis, Sie verdienen es nicht, dass Ihnen weiter Aufmerksamkeit geschenkt wird, außer von einem Psychiater", hieß es demnach in einer E-Mail mit den Initialien "HV" vom 4. Juni an Landis.
Bereits zwei Tage zuvor soll sich Verbruggen, der Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees ist, via E-Mail an den früheren Radprofi gewandt haben und ihm eine Zeitungskolumne nahe gelegt haben, indem Landis' Rolle kritisch hinterfragt wird.
"Ich möchte nicht das Risiko eingehen, dass Ihnen dieser Artikel entgeht. Wenn Sie diesen Artikel gelesen haben, werden Sie vielleicht auch zu dem Schluss kommen, dass Sie Ihr Hauptziel, eine Plage für viele Anderen zu sein, so gut erreicht haben, dass Sie ein Gelbes Trikot verdienen", hieß es darin.
Armstrong-Spenden an UCI
Die Emails birgen eine gewisse Brisanz, zumal Verbruggen bis 2005 den Radsport-Weltverband angeführt hatte. In dieser Zeit waren auch zwei Spenden Armstrongs in Höhe von insgesamt 125.000 Dollar eingegangen. Landis hatte bei seiner Doping-Beichte Mitte Mai behauptet, dass Armstrong im Jahre 2002 positiv auf Epo getestet worden sein soll.
Er habe dann ein "finanzielles Abkommen" mit dem damaligen UCI-Chef Hein Verbruggen getroffen, um den Test verschwinden zu lassen. Verbruggen hatte dies dementiert und Landis öffentlich angedroht, rechtliche Schritte gegen ihn einzuleiten.An Armstrong prallen die Dinge zumindest äußerlich ab. Er ist es gewohnt, dass es um ihn herum nie leise wird. Und so braust er im altbekannten Stakkato-Tritt vom Hof. Nach ein paar Minuten ist der Spuk wieder vorbei. Zurück bleibt das Hotel, das ganz in Gelb geschmückt ist. Eine Farbe, von der Armstrong in diesen Tagen so weit entfernt ist, wie Deutschland vom Wintereinbruch.