Als eine Rückhand den größten Triumph seiner jungen Karriere perfekt gemacht hatte, übermannten Alexander Zverev die Emotionen. Der Länge nach ausgestreckt lag der hünenhafte Jungstar auf dem Court der Londoner o2-Arena, sein Körper bebte, den Kampf mit den Freudentränen hatte Zverev erst gar nicht aufgenommen.
Als erster Deutscher seit Boris Becker vor 23 Jahren hat sich der gebürtige Hamburger beim Saisonfinale zum Besten der Besten gekrönt - mit einem in allen Belangen überzeugenden 6:4, 6:3-Sieg über den Weltranglistenersten Novak Djokovic.
"Das ist mit Abstand der wichtigste Titel, den ich bisher gewonnen habe. Ich kann es kaum beschreiben, es ist unglaublich", sagte Zverev bei der Siegerehrung. Der bis zum Finale in einer eigenen Liga spielende Djokovic, der Zverev am Mittwoch noch deutlich geschlagen hatte, lobte seinen Bezwinger: "Du hast so viel besser gespielt als im Gruppenspiel. Du bist noch immer so jung, du hast eine unglaubliche Karriere vor dir."
Zverev dritter deutscher Titelträger seit Becker und Stich
Nach nur 1:19 Stunden hatte Zverev seinen zweiten Matchball verwandelt. Der 21-Jährige ist der jüngste Titelträger bei den ATP Finals seit Djokovic vor zehn Jahren und der dritte Deutsche nach Becker (1988, 1992, 1995) und Michael Stich (1993).
Für den Erfolg vor 17.800 Zuschauern in der Londoner o2-Arena bekommt Zverev 2,509 Millionen Dollar und die Anerkennung der gesamten Tennisszene.
Becker zog als Kommentator der BBC seinen Hut vor Zverev. "Ein Deutscher mit Humor, der reden und über sich selbst lachen kann - ein Star ist angekommen", sagte der dreimalige Wimbledon-Sieger, auch mit Blick auf die launige Rede seines Landsmannes bei der Siegerehrung.
Beim letzten Großereignis des Jahres hatten alle Experten mit Djokovics sechstem Triumph gerechnet, immerhin hatte der Weltranglistenerste in den vergangenen sechs Monaten nur zwei Matches verloren, in Wimbledon und bei den US Open dominiert und sich auch beim Saisonfinale in den ersten vier Matches keine Blöße gegeben.
Nicht einmal verlor Djokovic dabei seinen Aufschlag, doch Zverev kannte keinen Respekt vor dem großen Namen.
Zverevs bestandene Reifeprüfung gegen Federer
Die bestandene Reifeprüfung im Halbfinale gegen Rekordchampion Roger Federer hatte sein Selbstvertrauen ins unermessliche wachsen lassen. Beim 7:5, 7:6 (7:5) am Samstag überzeugte Zverev nicht nur im Spiel mit Nervenstärke und taktischem Geschick, sondern auch nach dem Matchball.
Als die vielen Federer-Fans ihn auspfiffen, reagierte Zverev besonnen. Auch wenn ihn die Vorwürfe schmerzten. Zverev sprach später von einem "glücklichen und traurigen Moment zugleich. Es war eine schwierige Situation für alle Beteiligten."
In der entscheidenden Phase des Tiebreaks hatte ein Balljunge mitten in der Rally einen Ball fallengelassen, Zverev deshalb das Spiel unterbrochen. Als der Ballwechsel anschließend regelkonform wiederholt wurde, schlug er ein Ass und verwandelte wenig später seinen zweite Matchball zum Sieg über sein Kindheitsidol.
Doch ein Finaleinzug, auch wenn er ihn gegen den Schweizer Federer perfekt gemacht hat, reicht Zverev nicht, er kennt nur ein Ziel: der Beste sein. Die ewigen Vergleiche mit Becker interessieren ihn zumindest so lange nicht, "bis ich als erster Deutscher nach ihm Wimbledon gewinne", sagte er vor dem Endspiel gegen Djokovic.
Mehrzahl der Zuschauer auf Zverevs Seite
Beckers Fußstapfen beim Saisonfinale, das einst Masters Cup oder ATP-Weltmeisterschaft hieß, hat Zverev nun bereits ausgefüllt, 20 Kilometer von der Grand-Slam-Anlage an der Church Road entfernt.
Einen Tag nach seinem Sieg über Publikumsliebling Federer schaffte er es sogar, die Mehrzahl der Zuschauer in der North Greenwich Arena auf seine Seite zu ziehen. Aufschlagstark, geduldig von der Grundlinie und mit überlegten Netzattacken diktierte er die Partie.
Dabei hatte er vor und während des Turniers über die für seinen Geschmack viel zu lange Saison geklagt. Die Müdigkeit habe ihn seit zwei Monaten nicht mehr losgelassen, körperlich und mental sei eine Grenze erreicht, sagte Zverev.
In seinem 77. offiziellen Match des Jahres war davon jedoch kaum etwas zu spüren. Mit dem nahenden Urlaub auf den Malediven vor Augen spielte Zverev das Tennis seines Lebens.