Nach der ersten Saison ohne Titel seit 13 Jahren und einer ebenso wenig schmackhaften, mit dem Pokalsieg lediglich etwas hübscher garnierten Spielzeit 2016/2017, sollte beim THW Kiel in diesem Jahr alles besser werden.
Doch nach der Niederlage im Super Cup gegen die Rhein-Neckar Löwen ging am Sonntag auch das Duell in der Champions League gegen Paris verloren. Viel schlimmer noch: In der HBL setzte es drei Pleiten aus sechs Partien - in eigener Halle gegen Hannover-Burgdorf und in Melsungen sowie am Donnerstag nach desaströser Vorstellung mit 22:30 bei der HSG Wetzlar.
"Das haben wir uns ganz anders vorgestellt", sagte THW-Geschäftsführer Thorsten Storm. Weg ist die Aufbruchsstimmung, der Traum von der 21. deutschen Meisterschaft angesichts von Platz neun schon nach wenigen Wochen in die Ferne gerückt. An der Kieler Förde rumort es.
Theater um Andreas Wolff
Sinnbildlich für die miese Laune steht Andreas Wolff. Der Torhüter ist gleich doppelt unzufrieden. Zum einen beschwerte er sich bereits in der vergangenen Saison öffentlich über geringe Einsatzzeiten in den alles entscheidenden Partien in der Königsklasse.
Zum anderen fühlt er sich unterbezahlt. Der 26-Jährige hatte seinen Vertrag in Kiel bis 2019 bereits unterschrieben, als er bei der EM 2016 zum Helden wurde, einen maßgeblichen Anteil am Titelgewinn des DHB-Teams hatte und seither der aktuell wohl bekannteste Handballer Deutschlands ist.
Zuletzt platzten auch noch die Verhandlungen über eine vorzeitige Vertragsverlängerung zu besseren Bezügen. Wolff liebäugelt seither offen mit einem vorzeitigen Abschied aus Kiel, ihm sollen lukrative Angebote aus Veszprem (Ungarn) und Kielce (Polen) vorliegen. Die Branche munkelt, der gebürtige Rheinländer könnte im Ausland mehr als das Doppelte der 20.000 Euro brutto kassieren, die er beim THW monatlich verdienen soll.
Andreas Wolff: "Ich verstehe die Kritik nicht"
"Ich verstehe die Kritik nicht", sagte Wolff, der häufig zwischen den Pfosten dem dänischen Nationaltorhüter Niklas Landin weichen muss, kürzlich bei Kretzschmar - der Handball-Talk: "Ich habe nur gesagt, dass ich traurig darüber bin, dass ich in den entscheidenden Spielen, also den vier K.o.-Spielen in der Champions League, insgesamt nur zehn Minuten gespielt habe."
Und dass er sich einen Vereinswechsel vorstellen könne, wenn das auch in Zukunft der Fall sein sollte. Schließlich seien das die Spiele, in denen man eine große Persönlichkeit werden könne, in denen sich der Unterschied zwischen den Großen und den guten Spielern herauskristallisiere.
"Dann kommt dazu", erklärte Wolff weiter: "Dass ich den Berater gewechselt habe, der meinen finanziellen Standpunkt anders beurteilt, als das der vorherige getan hat." Beim neuen Agenten des Torhüters handelt es sich um Sasa Bratic. Ein Mann, der mit allen Wassern gewaschen ist und in der Szene teilweise sogar mit dem aus dem Fußball-Business bekannten Mino Raiola verglichen wird. Wolff selbst nennt Bratic den "besten Berater der Welt".
Wolff vor dem Absprung - kommt Bitter?
"Wir sind bei den Gesprächen über eine Vertragsverlängerung nicht auf einen Nenner gekommen. Es gab Angebot und Vorstellung", sagte Storm eine Woche später an gleicher Stelle und ergänzte vielsagend: "Das mag auch am besten Berater der Welt liegen."
Gleichwohl wäre es zu billig und ungerecht, den 2016 aus Wetzlar nach Kiel gewechselten Keeper als geldgierig darzustellen. Dies betonte auch Storm. Wolff verhalte sich im Team gut, sei "super ehrgeizig" und trainiere "wie ein Wahnsinniger".
Ebenso wenig lässt sich wegdiskutieren, welch Tanz auf dem Pulverfass die Situation ist. Als Alfred Gislason beispielsweise Wolff gegen Melsungen nach schwacher Leistung vom Feld nahm, würdigte der den Trainer keines Blickes. Dass der THW Wolff vor Ende seines Vertrages ziehen lässt, gilt bei einer Ablöse im hohen sechsstelligen Bereich als wahrscheinlich. Mit dem Stuttgarter Johannes Bitter wird längst ein Nachfolger gehandelt.
Alfred Gislason in der Kritik
Das Thema Wolff ist im hohen Norden nur ein Punkt, der diskutiert wird. Spätestens seit der vergangenen Saison werden auch kritische Stimmen gegen den Trainer lauter. In der Sparkassen-Arena raunt das Publikum schon mal.
Dem isländischen Erfolgscoach wird vor allem die statische und häufig ideenlose Spielweise seiner Mannschaft vorgeworfen. In Wetzlar wirkte das Team gar völlig blutleer. "Mitte der zweiten Hälfte war eine gewisse Resignation in der Mannschaft zu spüren", sagte Gislason: "Ich muss mich schon selbst fragen, wieso die Mannschaft so verunsichert ist. Das geht garantiert auf meine Kappe."
Außerdem soll der 58-Jährige ein Machtmensch und obendrein außergewöhnlich stur sein. "Alfred ist ein absoluter Teamplayer. Er fragt die Führungsspieler nach deren Meinung. Es ist nicht so, dass Alfred stur mit dem Kopf durch die Wand geht, weil er eine starke Persönlichkeit ist. Wenn er keine starke Persönlichkeit wäre, dann wäre er nicht schon so lange beim THW", verteidigte Storm seinen Coach.
Alfred Gislason: "Das lässt mich nicht kalt"
Gislason selbst gibt sich keinen Illusionen hin. Der Mann aus Akureyri weiß, wie wenig die unter ihm errungenen Titel (sechs deutsche Meisterschaften, fünf Pokalsiege und zwei Champions-League-Siege) heute noch wert sind.
"Ich kenne das Geschäft, ich weiß, wie es läuft", sagte der "fauchende Geysir": "Es lässt mich nicht kalt, wenn wir verlieren und wenn über meinen Job geredet wird." Er befindet sich in seiner 21. Saison als HBL-Trainer, seit 2008 hält er bei den Zebras die Zügel in der Hand.
Man merkt Gislason zwar an, mit welchem Ehrgeiz er seine Arbeit nach wie vor verfolgt. Allerdings räumte er in den vergangenen Jahren auch immer wieder ein, die Abnutzungserscheinungen des Geschäfts zu spüren.
Ob der dreifache Familienvater wirklich bis zu seinem Vertragsende 2019 in Kiel bleibt, muss zumindest bezweifelt werden. Ohnehin stellt sich die Frage, ob er der richtige Mann ist, um mit dem Klub die dringend notwendigen, neuen Wege zu gehen.
THW Kiel: Mangelhafte Jugendarbeit
Die Situation ist nämlich ganz anders als noch vor fünf Jahren. Kiel ist nicht mehr das alleinige Nonplusultra im europäischen Handball. Weltklassespieler haben die Qual der Wahl: Barcelona, Veszprem, Kielce, Paris oder Skopje - man kann bei einigen Vereinen ausgezeichnet und mehr als in Deutschland verdienen.
Auch die Konkurrenzsituation in der Bundesliga ist schärfer geworden. Zwar hat Kiel noch immer den höchsten Etat, Flensburg und die Löwen sind aber nicht mehr so weit entfernt. Und mit Berlin, Melsungen und Magdeburg - aktuell sogar Hannover - machen weitere Klubs mächtig Dampf.
Der THW muss umdenken. Dumm nur, dass man an der Förde die Nachwuchsarbeit bislang sträflich vernachlässigt hat. Im vor wenigen Wochen veröffentlichten Ranking zur Effektivität der Nachwuchsförderung wurde Kiel in Deutschland auf Rang 31 geführt - für den Branchenprimus ein peinliches Ergebnis.
"Früher hatte der THW nur den Fokus auf die erste Mannschaft, da ging auch das ganze Budget rein", gab Storm zu: "Wir fangen jetzt erst an, eine vernünftige Infrastruktur aufzubauen. Jetzt wird ein Trainingszentrum gebaut. Wir arbeiten daran. Man wird in diesem Bereich in den kommenden Jahren einiges vom THW hören."
Wo sind die Führungsspieler?
Vielleicht entspringt daraus eines Tages ein echter Führungsspieler. Denn daran mangelt es in Kiel derzeit. Die Zeiten, in denen große Persönlichkeiten wie Magnus Wislander, Marcus Ahlm, Stefan Lövgren oder Filip Jicha den Ton angaben, werden schmerzlich vermisst.
Zumal Domagoj Duvnjak nach wie vor verletzt fehlt und niemand ganz genau sagen kann, wann und wie der Kroate zurückkehren wird. Storm sieht zwar Patrick Wiencek oder Niklas Landin auf einem guten Weg, erklärte aber auch: "So ein THW-Trikot wiegt ganz schön. Da bekommst du schon mal feuchte Hände, wenn du in die Halle einläufst."
Immerhin hat der THW einen kleinen Umbruch vollzogen. Mit Lukas Nilsson, Nikola Bilyk oder auch Rune Dahmke stehen junge, sehr vielversprechende Spieler im Aufgebot. Der im Sommer verpflichtete Miha Zarabec sorgt für frischen Wind. Anscheinend kommt 2018 auch das dänische Supertalent Magnus Landin zum THW, die Verpflichtung von Hendrik Pekeler ist bereits fix.
"Die Zukunft dieser Mannschaft ist sehr gut", stellte Gislason fest. "Aber was zählt, ist das Jetzt."