Handball - Stefan Kretzschmar im Legenden-Interview: "Wodka Lemon in Dosen fanden wir überragend"

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SPOX: Gummersbach scheint in Sachen Party ein heißes Pflaster gewesen zu sein. Andreas Thiel räumte einmal im SPOX-Interview ein, zu seiner Zeit beim VfL nach jedem Auswärtsspiel blitzeblau aus dem Bus geklettert zu sein.

Kretzschmar: Das gilt nicht nur für Gummersbach, das war im Handball zu dieser Zeit generell so. Man muss sich nur mal die Geschichten aus Essen, Großwallstadt oder von Wallau Massenheim anhören. Es gab kein Social Media, niemand konnte irgendwas im Netz verbreiten. Selbst in der eigenen Stadt konntest du bis morgens um 4 Uhr in Kneipen gehen und problemlos auch mit Fans feiern. Das war völlig normal, das hat dir niemand übel genommen. Selbst Dinge, wie im Mannschaftsbus zu rauchen, waren völlig normal.

SPOX: Wie bitte? Trainer Heiner Brand galt doch als extremer Gegner der Raucher.

Kretzschmar: Bei Heiner war es dann eben so, dass nur hinten im Bus geraucht werden durfte. (lacht)

SPOX: In Gummersbach gab es außerdem ein ziemlich fragwürdiges Aufnahmeritual. Erzählen Sie uns davon.

Kretzschmar: Wir wurden in eine Kneipe eingeschlossen und der Zapfhahn wurde mit einem Gummi befestigt, sodass das Bier ununterbrochen lief. Ältere Spieler hatten die Aufgabe, sich um jüngere zu kümmern, also sie abzufüllen. Bei mir war das relativ leicht. Ich habe nichts vertragen und war nach einer halben Stunde voll. Wenn der ältere Spieler auf ex trank, dann musstest du das auch machen. Es war dabei übrigens auch völlig egal, ob die Gläser unterschiedlich voll waren. Dann musste man sich auf einen Stuhl stellen und zwei halbe Liter in weniger als einer Minute trinken. Danach musste man noch eine Rede halten.

SPOX: Worüber?

Kretzschmar: Das Thema wurde einem vorgegeben. Mein Thema war Intimtätowierungen in der ostdeutschen Zone. Darüber musste ich drei Minuten sprechen. Innerhalb der Mannschaft gab es ein Präsidium, das darüber entschieden hat, ob du aufgenommen oder abgelehnt wurdest. In meinem Jahrgang wurde tatsächlich einer abgelehnt.

SPOX: War dieser Spieler somit im Team geächtet?

Kretzschmar: Es war tatsächlich so - und damit darf man sich nicht rühmen - dass dieser Typ das gesamte Jahr über nicht akzeptiert wurde. So hart war damals der Profisport.

SPOX: Wir haben Brand vorhin schon einmal kurz angesprochen. Sie sind anfangs gar nicht mit ihm klargekommen. Oder sollte man sagen, dass er mit Ihnen nicht zurechtgekommen ist? Er unterstellte Ihnen jedenfalls "einen unheimlichen Spaß am Provozieren".

Kretzschmar: Rückblickend gesehen, liegt die Hauptschuld wohl eher bei mir. Wobei Heiner damals auch stur war, da prallten zwei völlig unterschiedliche Charaktere aufeinander. Ich, der Vollidiot aus Berlin, der aus der Hausbesetzer- und Punk-Szene kam, und Heiner Brand aus Gummersbach. Weiter entfernt kann man nicht voneinander sein. Wenn wir nicht beide mit Handball zu tun gehabt hätten, dann hätten wir wohl überhaupt keine Gemeinsamkeiten gehabt. (lacht) Er hat nicht verstanden, was ich machte. Und ich habe nicht verstanden, was er von mir will.

SPOX: Was war daran so schwer?

Kretzschmar: Ich verstand erst mit 26 oder 27 Jahren, worum es im Mannschaftssport geht. Ich habe mit Parolen nur so um mich geworfen, habe völlig sinnlos und ohne Verstand provoziert, wo ich nur konnte.

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SPOX: Schämen Sie sich rückblickend teilweise für das damalige Verhalten?

Kretzschmar: Wenn ich mir heute Fernsehsendungen von damals ansehe, bei denen ich zu Gast war, dann ist das einfach nur peinlich. Das hatte mit Coolness gar nichts zu tun. Natürlich hat es für Aufsehen gesorgt und viele Kids fanden es irgendwie cool. Trotzdem: Es war einfach nur peinlich, das muss ich ganz ehrlich sagen.

SPOX: War Brand also hauptsächlich wegen Ihnen in der damaligen Zeit ein Kontrollfreak?

Kretzschmar: Ein Stück weit wurde er dazu gezwungen, ich war wahrscheinlich der Schlimmste. Ich war vor wenigen Wochen mit der alten Truppe inklusive Frauen in Portugal. Da habe ich zum ersten Mal nach 20 Jahren mehr als drei Minuten mit der Frau von Heiner gesprochen. Sie erzählte mir, was sie damals von mir gehalten hat. Das war so schlimm, dagegen hat Heiner mich fast schon geschätzt. (lacht)

SPOX: Was hat Frau Brand denn von Ihnen gehalten?

Kretzschmar: Sie hat sich damals geschworen, nie wieder ein Wort mit mir zu reden. Sie hätte sich nicht vorstellen können, was ich im Leben noch für eine Wendung nehme. Daran kann man das Ausmaß erkennen, was ich für ein Idiot gewesen sein muss. Ich hätte es nicht mal für nötig gehalten, sie zu grüßen, ich hatte selbst die einfachsten Benimmregeln nicht drauf. Ich glaube, dass auch Heiner daran ein Stück weit verzweifelt ist.

SPOX: Als Sie zum DHB-Team kamen, war Andreas Thiel der unumstrittene Chef in der Mannschaft. Auch da soll es anfangs Probleme gegeben haben.

Kretzschmar: Mit dem Hexer war es anders. Das lag daran, dass ich mit ihm viel über Politik gesprochen habe. Er hat dadurch gemerkt, dass ich kein Dummkopf bin, dass ich Meinungen vertreten kann, die auch Sinn ergeben. Nur meine noch verankerte Ostalgie war für ihn schlimm, da er einer der größten Sozialismus-Gegner war, die es gab. Das hat zu heftigen, stundenlangen Diskussionen geführt.

SPOX: Zu welchen Gelegenheiten fanden diese Diskussionen statt?

Kretzschmar: Eine Situation werde ich nie vergessen. Wir waren mit dem Nationalteam in Tel Aviv, der Hexer, Jan Holpert, Christian Ramota und ich gingen in einen Laden, wo wir feststellten, dass es Wodka Lemon in Dosen gab. Das fanden wir so überragend, dass wir einen ganzen Koffer davon gekauft haben. Damit sind wir ins Hotelzimmer gegangen, wo Thiel und ich intensiv zu diskutieren begannen. Holpert und Ramota schlugen irgendwann die Hände über dem Kopf zusammen und gingen, wir diskutierten stundenlang weiter.

SPOX: Also haben Sie zum Hexer bis heute eine besondere Beziehung?

Kretzschmar: Diese Gespräche haben mir unglaublich viel bedeutet. Der Hexer ist für mich der Spieler in der Geschichte des deutschen Handballs, er hat - glaube ich - den höchsten Intelligenzquotienten, den es gibt. Er war schon damals eine Legende, zu der ich aufgeschaut habe, eine absolute Autoritätsperson. Wenn er etwas gesagt hat, dann wurde das gemacht. Er ist ein ganz wichtiger Mensch in meinem Leben. Der Hexer ist einfach großartig.