Neymar sackte zusammen und lag reglos am Mittelkreis, er weinte um seinen großen Titel-Traum, der nun vielleicht nie wahr wird. Denn nach dem bitteren Aus im WM-Viertelfinale gegen Kroatien ließ der Superstar seine Zukunft in der Selecao offen.
"Es ist ein schlechter Moment, darüber zu sprechen, ich bin noch zu aufgewühlt", sagte Neymar nach dem 2:4 im Elfmeterschießen. Das Spiel sei "wie ein Albtraum" gewesen, "ich kann nicht glauben, was passiert ist". Nun über ein Ende im Nationaltrikot zu sprechen, sei "ein bisschen voreilig. Aber ich will auch nichts garantieren."
Der Frust war groß, denn schon wieder war der Weg zum ersehnten Titel zu steinig. Bissige, unnachgiebige Kroaten versperrten ihn dieses Mal, der Tanz der Selecao endete schon vor dem Halbfinale. Nun beginnt eine neue Ära - ohne Neymar? Auf jeden Fall ohne Nationaltrainer Tite, der noch am Freitag wie angekündigt nach sechs Jahren abtrat: "Das ist das Ende meiner Zeit, ich halte mein Wort. Wir sollten kein Drama daraus machen."
Für den Vize-Weltmeister Kroatien um Altstar Luka Modric geht es jetzt im Halbfinale gegen Brasiliens Erzrivalen Argentinien weiter. "Wir sind ein kleines Land mit sehr großen Fußballern", sagte der langjährige Bundesligaprofi Ivica Olic, heute Co-Trainer der Kroaten, bei MagentaTV: "Ich bin sehr stolz. Wir stehen zum zweiten Mal in Folge im Halbfinale, vielleicht reicht es dieses Mal bis zum Ende."
Brasilien entwickelt Europa-Komplex
Nach 120 Minuten hatte es 1:1 gestanden, erst in der Verlängerung nahm das Spiel Fahrt auf, und es hätte alles so schön sein können für Brasilien: Neymar traf nach einem doppelten Doppelpass traumhaft zur Führung (105.), er holte damit den großen Pele als Rekordschützen des Landes ein. Doch Bruno Petkovic (117.) glich noch aus, es war für nimmermüde Kroaten der erste Schuss aufs Tor.
Und dann avancierte schon wieder Torhüter Dominik Livakovic zum Elfmeter-Helden, schon im Achtelfinale hatte er die Japaner verzweifeln lassen. Nun hielt er den Versuch von Rodrygo, Marquinhos scheiterte zudem am Pfosten - und ein ganzes Land weinte. Den erhofften "Hexa", den sechsten Titel, wird es auch in diesem Winter nicht geben. "Der Hexa-Traum wird auf 2026 verschoben", titelte O Globo trotzig.
Brasilien entwickelt allerdings einen ernsthaften Europa-Komplex: Seit dem Final-Triumph gegen Deutschland vor 20 Jahren gab es sechs K.o.-Duelle gegen europäische Teams - und dabei sechs Niederlagen.
Dieses Mal waren es die Kroaten, die den vermeintlich übermächtigen Gegner entnervten. Im Achtelfinale gegen Südkorea (4:1) war Brasilien geradezu zum Sieg getanzt, am Freitag nun wirkte das Team schwerfällig.
Brasilien: Neymar nur für ein paar Minuten der Held
Dabei war es vorab der Inbegriff der Siegesgewissheit gewesen. Auf der Busfahrt ins Education-City-Stadion sang die Mannschaft bereits vom Titel, nun wird das Finale am 18. Dezember schon wieder ohne Brasilien steigen. Und Neymar, mittlerweile 30, läuft so langsam die Zeit davon. Denn in den Legendenstatus gelangen von Rio de Janeiro bis Sao Paulo nur jene, die ihr Land auch mindestens einmal zum Campeao mundial machen - er könnte irgendwann als Unvollendeter abtreten.
Die Probleme wurden früh im Spiel offensichtlich, Kroatiens Trainer Zlatko Dalic ließ seine routinierte Mannschaft mit großem läuferischen Aufwand hoch attackieren. Das war der Favorit bei dieser WM nicht gewohnt. Modric nahm Casemiro zudem in Manndeckung - und der ehemalige Bayern-Profi Ivan Perisic hatte die erste Torchance (13.).
Kroatien verteidigte souverän und hatte sich vorgenommen, den Edeltechnikern mit Konsequenz und Kontern auf die Nerven zu gehen. Eine Prise gesunde Härte, auch gegen Neymar, war Teil der Taktik, Gvardiol organisierte die Abwehr stark. Im rechten Mittelfeld fiel Josip Juranovic sehr positiv auf.
Erstaunlicherweise bekam Kroatien nicht weniger Ballbesitz als der Gegner, dennoch stieg der brasilianische Druck später an. Livakovic musste mehrfach retten. Bald ging es torlos in die Verlängerung, erst hier nahm die Begegnung Fahrt auf - und Neymar wirkte nur für ein paar Minuten wie der große Held.
Kroatien - Brasilien: Die Stimmen
Zlatko Dalic (Nationaltrainer Kroatien): "Dies ist einer der größten Siege. Wir haben gezeigt, wofür Kroatien steht, was es heißt, nie aufzugeben. Wir sind zum zweiten Mal in vier Jahren im Halbfinale, wir haben gegen einen der größten Favoriten gewonnen. Wir haben einen starken Charakter. Kroatien hat das beste Mittelfeld der Welt, wir hatten Kontrolle über den Ball, Kontrolle über das Spiel."
Tite (Nationaltrainer Brasilien): "Wir müssen bereit sein, unsere Freude zu teilen, aber wir müssen auch willig sein, unsere Trauer zu teilen. Ich bin der Hauptverantwortliche, aber wir sind alle verantwortlich für die Niederlage. Es geht nicht um Held oder Bösewicht - das ist Fußball, manchmal gewinnen wir, manchmal verlieren wir. Ich bleibe dabei, das ist das Ende meiner Zeit mit der brasilianischen Nationalmannschaft. Das habe ich schon vor eineinhalb Jahren gesagt, ich halte mein Wort. Wir sollten kein Drama daraus machen."
Kroatien - Brasilien: Daten zum Spiel
Kroatien: Livakovic - Juranovic, Lovren, Gvardiol, Sosa (ab 110. Budimir) - Brozovic (ab 114. Orsic) - Kovacic (ab 106. Majer), Modric - Pasalic (ab 72. Vlasic), Kramaric (ab 72. Petkovic), Perisic. - Trainer: Dalic
Brasilien: A. Becker - E. Militao (ab 106. Alex Sandro), T. Silva, Marquinhos, Danilo - L. Paqueta (ab 106. Fred), Casemiro - Raphinha (ab 56. Antony), Neymar, Vinicius Junior (ab 64. Rodrygo) - Richarlison (ab 84. Pedro) - Trainer: Tite
Schiedsrichter: Michael Oliver (England)
Tore: 0:1 Neymar (105.+1), 1:1 Petkovic (117.)
Elfmeterschießen: 1:0 Vlasic, Livakovic hält gegen Rodrygo, 2:0 Majer, 2:1 Casemiro, 3:1 Modric, 3:2 Pedro, 4:2 Orsic, Marquinhos schießt an den Pfosten
Zuschauer: 43.893 (in Ar-Rayyan)