Eine weitere Taktik, die oft gewählt wird, ist die Verharmlosung von Doping im Fußball. Mutko witzelte am Dienstag in Anspielung auf das blamable Auftreten der russischen Mannschaft: "Wenn wir gedopt sind - wie spielen wir dann erst ohne?" Das Fußball im Doping nichts bringe, haben schon viele Trainer und Funktionäre behauptet. Sachse bezeichnet die Aussage Mutkos als "Quatsch". "Es gib bereits zig nachgewiesene Dopingfälle im Fußball aus unteren Ligen und aus Mannschaften, die gegen den Abstieg gespielt haben. Aus dem Radsport wissen wir auch, dass nicht nur die Fahrer gedopt haben, die am Ende auf dem Podium gelandet sind."
Sachse: "Doping im Fußball lohnt sich"
Generell sieht Sachse die Problematik differenzierter: "Gerade im Fußball lohnt sich Doping, weil dabei sehr unterschiedliche Fähigkeiten gefragt sind, die alle mit Doping optimiert werden können. Ausdauer und Sprintfähigkeit können mit Blutdoping oder Epo verbessert werden." Muskeln würden schneller mit Testosteron, Wachstumshormonen und anabolen Steroiden wachsen. "Und dann gibt es noch die Verletzungsphasen, nach denen Spieler möglichst schnell wieder auf dem Platz stehen sollen. Wer nach einer Verletzung schneller wieder fit werden will, dem helfen beispielsweise anabole Steroide", erklärt der Dopingkritiker. Die Problematik rund um den Einsatz verbotener Mittel bei Verletzungen war auch ein viel diskutierter Part des SPOX-Dopingreports im März.
Vor der heutigen Auslosung in Moskau versucht das Organisationskomitee solche Vorstellungen gar nicht erst aufkeimen zu lassen. Sicherlich wird die Veranstaltung perfekt inszeniert werden. Schließlich sieht Wladimir Putin die WM nicht nur als Sportereignis. "Es ist Teil eines geopolitischen Kampfes, eine Möglichkeit, der Welt zu zeigen, wie mächtig der Staat ist, an deren Spitze er steht", führte etwa Ilja Jaschin, einer der wenigen verbliebenen russischen Oppositionspolitiker kürzlich gegenüber sport inside aus.
10,5 Milliarden Euro für WM als Teil "eines geopolitischen Kampfes"
Dafür gibt der Kreml eine immense Summe aus. Neulich wurde das Gesamtbudget auf 10,5 Milliarden Euro erhöht - es wird damit die teuerste WM aller Zeiten. Bereits Sotschi war mit mehr als 50 Milliarden Dollar teurer als alle bisherigen Winterspiele in Summe. Der Weg eines nicht unerheblichen Teils beider Summen war und ist schwer bis gar nicht nachzuvollziehen.
Vor Wochenfrist klärte das WDR-Team über Verstrickungen gleich mehrerer Putin nahestehender Oligarchen im Vorfeld der WM auf. "Wenn es ein großes staatliches Projekt wie die WM gibt, ist das Futtertrog für Diebe, korrupte Beamte und kremlnahe Oligarchen. Ausschreibungen werden an die eigenen Leute verteilt, um den Kreis Putins um Oligarchen zu erweitern, die ihre Loyalität beweisen konnten", sagt Oppositionspolitiker Jaschin.
Mysteriöser Tod des Oppositionsführers
Sein Mentor Boris Nemzow, der sich um die Verfehlungen in Sotschi kümmerte, wurde 2015 in der Nähe des Kremls erschossen. Weitere Probleme, wie die verheerenden Arbeitsbedingungen für Leiharbeiter an den Stadionbaustellen gab und gibt es zu genüge.
Kurzfristig scheinen die Verantwortlichen jedoch am meisten Angst vor der Dopingproblematik zu haben. Der Druck durch Äußerungen des Whistleblowers Rodtschenkow, davon ist auszugehen, wird auch nach der Auslosung weiter wachsen. Einen Ausschluss Russlands oder gar eine Verlegung der WM halten die Experten Kistner und Sachse für nahezu utopisch. "Ohne einen Gastgeber würde eine WM aus Sicht des Veranstalters nicht funktionieren", erklärt Sachse. Dazu kommt: Eine Verlegung wäre logistisch nur noch schwer umzusetzen.
Selbst kleinere Sanktionen, wie den Ausschluss eines oder mehrerer Spieler vor der WM, wie sie den Fußballerinnen Nordkoreas 2011 wiederfuhren, hält Kistner für schwierig. "Das Problem ist: Die FIFA wird so tun, als müsste sie erst reagieren, wenn konkrete Befunde auf dem Tisch liegen."
Auch Spielerausschlüsse unwahrscheinlich
Bei der WM selbst greift dann das nächste, einzigartige Problem. Die FIFA ist der einzige Verband weltweit, der die Dopingkontrollen beim Weltturnier selbst durchführt. "Im ersten Schritt muss die FIFA ihre Kontrollen an eine unabhängige Kontrollorganisation übergeben. Dann müssen die Kontrollen flexibler erfolgen. Schließlich sollte spätestens nach dem Turnier transparent gemacht werden, welche Spieler wann kontrolliert wurden und auf welche Substanzen getestet wurde. Dann würde sich das System weniger angreifbar machen", fordert Sachse.
Sachse kritisiert zudem, dass der Ablauf der Kontrollen bei der vergangenen WM zu standardisiert und damit durchsichtig gewesen sei. "Vor dem Turnier wurden alle Spieler einmal kontrolliert. Sobald diese Kontrolle durch war, war die Chance eher klein, ein zweites Mal kontrolliert zu werden. Es gab kaum und oft gar keine Kontrollen mehr zwischen den Spielen. Die meisten Spieler wurden zufällig bei Spielen ausgelost und mussten nach Abpfiff Urin und Blut abgeben." Seit Maradona habe es keinen positiven Fall bei einer WM gegeben. Sachse tendiert dazu, dass die Testvorgänge zu lasch sind.
Sachse: Kontrollsystem während WM zu vorhersehbar"
Als "populistisch" titulierte er auch die medienwirksamen Aussagen des DFB-Präsidenten Reinhardt Grindel, der kürzlich bessere Tests für russische Fußballer forderte. Zuvor wurde bekannt, dass 14 Spieler des russischen Kaders gegen Spanien im Jahr 2016 gar nicht, und neun Akteure nur einmal getestet wurden.
"Der Chef des deutschen Fußballs wäre aus meiner Sicht gut beraten, zunächst die Dopingkontrollen im eigenen Land zu verbessern. Das kann er. Denn seine Organisation, der DFB, finanziert die Kontrollen im Deutschen Fußball und bestimmt durch die Überweisungen an die Nationale Anti Doping Agentur (NADA), was möglich ist."
Laut einer Anfrage an die NADA "gab es im Kalenderjahr 2016 Bundesliga-Mannschaften, die insgesamt 22 Dopingproben abgeben mussten. Ein durchschnittlicher Kader umfasst rund 30 Spieler. Das heißt: Es gab mehrere Spieler, die im kompletten Jahr 2016 nicht ein einziges Mal kontrolliert wurden."
Vorgänge, von denen Russland nicht nur örtlich meilenweit entfernt sind. Der Kreml und Putin kämpfen in diesen Tagen an zwei Fronten. Neben dem möglichst perfekten Probelauf bei der Auslosung in Moskau und dem Abwiegeln kritischer Stimmen entscheidet das IOC am Dienstag, ob das russische Olympiateam komplett von den Winterspielen 2018 in Südkorea ausgeschlossen wird. Für Putin haben beide Ereignisse einen großen Stellenwert.
Kistner: Russland bestens vernetzt im Weltsport
"Putin wird bis zuletzt für seine WM und für das russische Team bei Olympia alles tun, um im Sinne Russlands das Maximale herauszuholen", ist sich Thomas Kistner sicher. Direkten Einfluss aufeinander haben beide Großereignisse aber nicht. Die FIFA und das IOC sind Konkurrenzbetriebe.
Kistner regt aber zum Denken an: "Die Russen sind seit Jahrzehnten, das hat sich auch durch den Übergang von der Sowjetunion zu Russland nicht geändert, ganz tief vernetzt im Weltsport, sitzen in allen wichtigen Gremien und Institutionen. Deshalb besitzen sie ein unglaublich hohes Wissen über die Sportfunktionäre weltweit."
Das sei letztlich das grundlegende Problem: "Wenn man über diese Leute, die im Sport bestimmen, viel weiß, kann man mit denen natürlich anders sprechen. Das scheint vor allem im olympischen Bereich das Problem zu sein. Wir wissen nicht, was diesen Leuten über Sportfunktionäre alles vorliegt. In einer Welt, in der nur mit gesammelten Informationen, mit Druck, Verbindlichkeiten, Vetternwirtschaft und Abhängigkeiten gearbeitet wird, wäre es naiv zu glauben, dass solche Materialien nicht vorliegen", führt Kistner aus.
"Wenn es so wäre, dass Russland Druck auf Spitzenfunktionäre ausüben könnte, würde das die völlig absurde Verfahrensweise, insbesondere des IOC erklären, immer noch kein klares Signal in Richtung eines Ausschlusses des russischen Teams bei Olympia gegeben zu haben", mutmaßt Kistner.
Das sind Dinge, die das Publikum, die Öffentlichkeit nicht sehen: "Dass sich da unglaublich viel Wissen, viel Schmutz angehäuft hat und das natürlich eine Verhandlungsmasse ist für die beteiligten Figuren."
Offensichtlich wird es auch bei der Auslosung im Kremlpalast für das Publikum nichts Negatives zu sehen geben. Dafür geben sich Russland und FIFA allergrößte Mühe. Manchmal lohnt sich aber ein zweiter, genauerer Blick. Wie auf das mögliche Bild heute von Putin, Maradona und Cannavaro. Das eine ganz andere Strahlkraft haben könnte, als von den Verantwortlichen geplant.