Manchmal liegen Glück und Unglück nur auf dem Fuß. Und manchmal so nah zusammen, dass es schon brutal ist.
Hätte Roberto Baggio seine überragende Karriere noch vergoldet, wenn er 1994 den entscheidenden Elfmeter gegen Brasilien nicht in den Nachthimmel von Pasadena gedonnert hätte? Ob sich der FC Bayern zu der Maschine von heute entwickelt hätte, hätte man das Elfmeterschießen gegen den FC Chelsea 2012 gewonnen? Und wo wohl heute der englische Fußball stehen würde, wenn man in verschiedenen Dekaden stärkere Nerven hätte? Alles pure Spekulation.
Kein Raum für Mutmaßungen liefert die Vorstellung eines Ausscheidens einer brasilianischen Nationalmannschaft bei der Heim-WM. Der bärenstarke Schiedsrichter Howard Webb bat Brasilien und Chile noch gar nicht zum Elfmeterschießen, da kullerten schon bei einem halben Dutzend Brasilianer die Tränen und Emotionen kochten hoch.
Julio Cesar weinte, Hulk weinte, Luiz Gustavo weinte, David Luiz weinte. Paulinho, der Fernandinho Platz in der Startelf machte, hielt eine emotionale Ansprache. Selbst Trainer Luiz Felipe Scolari hörte gespannt zu und brachte keinen Ton heraus. Man kann sich die Bilder gar nicht ausdenken, was passiert wäre, wenn die Brasilianer im Achtelfinale ausgeschieden wären.
Tränen der Erleichterung
"So ein Ball am Ende des Spiels, und dir gehen tausend Dinge durch den Kopf. Da hätte der Traum von Millionen zu Ende sein können", sagte Luiz Gustavo über jene Szene, die schon das Elfmeterschießen beinahe verhindert hätte.
Der eingewechselte Chilene Mauricio Pinilla donnerte in der 120. Minute den Ball an die Latte. Julio Cesar war da schon geschlagen. Von vier Herzanfällen berichteten Offizielle im Stadion nach dem Spiel, mindestens drei passierten wohl nach dieser Szene. Unglücksrabe Pinilla verschoss wenige Augenblicke später dann auch den ersten Elfmeter und leitete das Aus für Chile ein.
Bei den Brasilianern flossen auch nach dem glücklichen Weiterkommen die Tränen. Cesar hielt eine tränenreiche Ansprache im Fernsehen, Neymar sank an der Seitenlinie in sich und weinte hemmungslos. Tränen des Glücks - und der Erleichterung. Denn in den 120 Minuten zuvor präsentierte sich die Selecao alles andere als reif und bereit für den Titel.
Neymar - sonst nichts
Brasiliens Konzept ist schnell erklärt: Neymar. Das brasilianische Glück steht und fällt mit dem 22-Jährigen und dessen Aktionen. Seine (offensiven) Teamkollegen sind mit Wohlwollen nette Begleiter mit minimalen Ambitionen, selbst Schwergewichte zu werden. Hulk, Fred, Jo und zumindest im Achtelfinale auch Oscar - Brasilien ist im Angriff so ungefährlich wie lange nicht mehr.
Das phasenweise konzeptlose Auftreten in weiten Teilen des Chile-Spiels zeigt auch, dass Scolari bei seiner umstrittenen Kaderzusammenstellung unstrittig Fehler gemacht hat. Von der Bank kann er kaum neue Impulse setzen, wenn es auf dem Platz nicht läuft. Und dennoch: Brasilien ist Titelfavorit - und das fast schon wider Willen.
Denn das emotionale Weiterkommen gegen Chile setzte erneut Kräfte frei und ließ wieder eine gehörige Portion Druck ab. Druck, der Brasilien bei diesem Turnier mitunter zum gefährlichsten Gegner macht. Wie schon vor dem Auftakt gegen Kroatien, als der Mannschaft schlicht die Knie schlotterten. Und vor dem ersten Ausscheidungsspiel nun das gleiche Bild, aber Brasilien hielt stand.
Brasilien leicht schlagbar? Ein Trugschluss
"Es ist ein unheimlicher Druck für uns, ein ganzes Land zu vertreten. Heute ist am Ende alles gut gegangen. Jetzt fehlen noch drei Stufen. Mein großer Traum ist es, Brasilien in einem großen Fest zu sehen", sagte Cesar.
"Das ist ein einzigartiger Moment in unserem Leben. Ich habe vor dem Spiel allen gesagt: 'Wenn einer weinen muss, dann aus Freude'", so Kapitän Thiago Silva. Konservieren die Brasilianer diese Freude und spielen endlich mal frei auf, muss man mit ihnen unabhängig vom Gegner rechnen.
Dass die Brasilianer bisher nicht gefordert wurden und dass eine gute Mannschaft diese Truppe mit Leichtigkeit aus dem Turnier bugsieren kann, ist ein Trugschluss. Kroatien, Mexiko und Chile gehörten vor dem Turnier zu den Geheimfavoriten und machten allesamt Brasilien das Leben schwer. Und dennoch setzen sich die Brasilianer durch.
Trainer Scolari gab seiner Mannschaft nach dem Chile-Spiel erst einmal frei. "Dann müssen wir uns weiter verbessern, um im Viertelfinale bestehen zu können", sagt Scolari. Kolumbien wartet.