Luiz Felipe Scolari ist kein Freund von Überraschungen, kein Freund der Spontanität. Vielmehr steht Scolari für Beständigkeit und Beharrlichkeit. Einer der jüngsten Belege dafür war die Nominierung seines Kaders für die WM 2014 im eigenen Land.
Der Brasilianer nominierte zu großen Teilen die Spieler, die 2013 das Gerüst für den Triumph beim Confederations Cup gebildet hatten. So weit, so gut, so berechenbar. Doch dann wartete Felipao dann doch noch mit einer kleinen Überraschung auf.
Sein Team wird bei der Weltmeisterschaft nicht etwa von einem Kapitän angeführt, sondern gleich von deren vier. Seine "auserwählten Anführer", wie Scolari sie bezeichnet, hören auf die Namen Thiago Silva, David Luiz, Julio Cesar und Fred.
Diese Entscheidung war ein Novum und sorgte zunächst für Aufsehen. Es wurde diskutiert über die Aufgabenverteilung, über flache Hierarchien und was eine solche Unterteilung des Kapitänsamtes über die Strukturen innerhalb der Mannschaft aussagen würde.
Wie einst die "Familie Scolari"
Dabei handelt es sich dabei in erster Linie um eine Formalität. Scolari hat seine verlängerten Arme auf dem Platz diesmal offiziell beim Namen genannt und ihnen ein Amt verliehen. Doch die Verteilung der Verantwortung auf dem Rasen hat unter dem Brasilianer schon immer Tradition.
2002, als er mit Brasilien letztmals den Titel holte, hieß sein Kapitän Cafu. Doch der legendäre Rechtsverteidiger war nur einer von vielen Anführern auf dem Platz. Das Wort von Roque Junior, seiner Zeit wohl einer der spielintelligentesten Innenverteidiger, sowie das von Lautsprecher und Spaßvogel Roberto Carlos und das eines Ronaldo auf dem Zenit seiner Karriere hatten mindestens ebenso viel Gewicht.
Durch diese Form der Hierarchie formte Scolari 2002 aus einem Haufen empfindlicher Stars eine eingeschworene Truppe, die "Familie Scolari", wie sie aufgrund des starken Zusammenhalts liebevoll genannt wurde. Am Ende stand der Titel.
Charakterliches Äquivalent zu Roberto Carlos
Diese Tradition sollen die Kapitäne von heute fortsetzen: Ein mit nicht weniger bisweilen divenhaften Weltstars gespicktes Team durch Teamgeist zum großen Triumph in ihrem Heimatland führen.
Allen voran Thiago Silva, der im Testspiel gegen Panama (21 Uhr im LIVE-STREAM FOR FREE) verletzungsbedingt ausfallen wird. Seine Nominierung als Kapitän war ebenso logisch wie konsequent. Silva war schon zuvor unumstrittener Captain und hatte Brasilien bereits 2013 beim Confed Cup zum Titel geführt.
An seiner Seite hat Scolari in David Luiz das charakterliche Äquivalent zu Roberto Carlos gefunden. Der Lockenkopf, der im Sommer von Chelsea zu Paris St.-Germain wechselt, ist selbst vor wichtigen Spielen ständig für einen Scherz zu haben und sorgt stets für lockere Atmosphäre. Doch wenn es darauf ankommt, mutiert Luiz zum Lautsprecher, zum Heißmacher.
Fred: "unspectacular target man"
Der dritte im Bunde, Fred, bewies spätestens beim Confed Cup, weshalb der im "Guardian" so schlicht wie treffend als "unspectacular target man" beschriebene Stürmer zwischen all den Superstars und Ballkünstlern dennoch seine Berechtigung hat. Mit fünf Treffern wurde er Torschützenkönig und leistete einen entscheidenden Beitrag zum Titelgewinn der Selecao.
Und obwohl der 30-Jährige in der vergangenen Saison eine lange Leidenszeit mit diversen Verletzungen ertragen musste, ist er bei Scolari gesetzt. "Fred bleibt bis zum Schluss auf meiner Liste", hatte Scolari seinem Schützling noch während dessen Verletzung den Rücken gedeckt.
Nun, im Vorfeld des Turniers, unterstrich Scolari nochmals die Hackordnung im Sturm. "Meine erste Wahl im Sturm ist Fred", stellte Scolari unlängst klar.
Cesar: Bei QPR Ersatz - unter Scolari Nr. 1
Bleibt Julio Cesar, der zuletzt vor dem Dasein als Bankdrücker beim englischen Zweitligisten QPR nach Toronto flüchtete. Der Cesar, der vor vier Jahren mit Inter Mailand die Champions League gewann und damals überragende Leistungen zeigte.
Die Tatsache, dass er bei Scolari nach wie vor zum Stamm-Inventar gehört, ist nicht unumstritten. Ein Torhüter, der über lange Zeit bei den Rangers kaum Spielzeit hatte, soll Brasilien beim wohl wichtigsten Turnier seiner Verbandsgeschichte zum Titel führen?
Cesar ist sich des öffentlichen Gegenwindes bewusst. "Ich bin 100 Prozent bereit für die WM, auch wenn meine Eignung für diese Position infrage gestellt wird. Trotz allem, was mir bei Inter und QPR widerfahren ist, habe ich nie aufgehört zu kämpfen", so der 34-Jährige, der sich vor allem bei Scolari bedankt: "Dem Rückhalt des Trainerstabs habe ich es zu verdanken, dass ich heute hier bin."
"Wenn ihr nicht wollt, will ich umso mehr"
Dass nicht jeder im Land mit Scolaris Entscheidung einverstanden ist, juckt den 65-Jährigen wenig. Dass sich manch einer fragt, weshalb ein Diego Alves nach einer starken Saison beim Europa-League-Halbfinalisten Valencia überhaupt kein Thema für Scolari war und ist. Dass er stattdessen auf einen Oldie mit mangelnder Spielpraxis und fehlender Wettkampfhärte setzt.
Doch Scolari blieb konsequent - trotz oder womöglich sogar wegen der Gegenstimmen. Das musste auch eine Reihe Journalisten erfahren, die es wagten, ihn auf die Nominierung Cesars anzusprechen: "Ich habe ihm einen Platz garantiert, weil ihr ihn nicht wolltet. Denn wenn ihr nicht wollt, will ich umso mehr."
Denn auch wenn seine größten sportlichen Momente bereits hinter ihm liegen, kommt Cesar in der Rolle als Leader noch immer eine enorme Bedeutung zu. Von seiner Erfahrung von bald drei WM-Turnieren können die Youngster mit Sicherheit profitieren - erst recht unter Berücksichtigung des enormes öffentlichen Drucks.
Auch deshalb will Scolari jeglichen Zufall ausschließen. Auch ihm ist klar: "In Brasilien haben wir nur eine Option: Gewinnen."
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