WM

"Die Niederlande haben ein mentales Problem"

Von Interview: Haruka Gruber
Bei der EM 2008 schied Oranje im Viertelfinale gegen Russland aus
© Getty

Schwache Nerven und massig Konfliktpotenzial: Kein anderes WM-Team ist so gut in Form wie die Oranje - dennoch zweifelt Ex-Nationalspieler Paul Bosvelt am Team. Der 40-Jährige war 2002 der verlängerte Arm des heutigen Bondscoachs Bert van Marwijk, als Feyenoord Rotterdam im Finale gegen Dortmund den UEFA-Cup gewann. Im Interview spricht Bosvelt, derzeit Co-Trainer beim niederländischen Zweitligisten Go Ahead Eagles Deventer, über schwierige Charaktere und eine unschöne Holland-Tradition.

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SPOX: Die Niederlande befinden sich bereits in einer guten WM-Form und haben in der Vorbereitung Ghana mit 4:1 und Ungarn mit 6:1 besiegt. Kann die Oranje Weltmeister werden?

Paul Bosvelt: Mein Gefühl sagt mir: nein.

SPOX: Warum so skeptisch?

Bosvelt: Die Niederlande starten traditionell grandios in ein Turnier - und können die Form dann nicht halten. Das ist fast schon eine Tradition. So lief es auch bei der EM 2008. Das liegt an zwei Gründen: Einerseits gelingt es nicht, die Mannschaft nach einer langen Saison so vorzubereiten, dass diese ihren Leistungshöhepunkt nicht am Anfang, sondern am Ende eines Turniers erreicht. Andererseits gibt es ein mentales Problem. Der Umgang mit Druck ist ein Problem für die Nationalmannschaft.

SPOX: Aber was ist mit der individuellen Qualität?

Bosvelt: Die ist natürlich überragend. Dass im Champions-League-Finale mit Arjen Robben, Mark van Bommel und Wesley Sneijder drei Niederländer auf dem Platz standen, die bei ihren Vereinen die dominanten Spieler sind, sagt alles. Das Problem ist nur, dass bei einem schweren Turnier wie der WM nicht die Summe der Individualspieler entscheidend ist. Vielmehr muss die Nationalmannschaft zusammenpassen.

SPOX: Und da haben Sie Zweifel?

Bosvelt: Es wird spannend zu beobachten sein, wie sich die Offensivspieler während der WM verhalten. Diese unglaubliche Tiefe auf den Positionen im Sturm und im offensiven Mittelfeld ist unsere größte Stärke - aber es kann auch zur größten Schwäche werden. Für vier Positionen kommen mit Sneijder, Robben, van Persie, van der Vaart, Huntelaar, Kuyt, Elia, Babel und Afellay neun große Namen in Frage. Enttäuschung ist programmiert. Wie verkraftet es jemand, wenn er auf der Bank sitzt? Kann er daraus positive Motivation ziehen? Ist er willens, sich mit der Rolle im Hintergrund zufrieden zu geben und anderen das Rampenlicht zu überlassen?

SPOX: Fragen, auf die Bondscoach Bert van Marwijk eine Antwort haben muss.

Bosvelt: Er hat eine schwere Aufgabe vor sich. Die eine große Herausforderung ist es, als Psychologe in die Mannschaft zu hören und für Harmonie zu sorgen. Die zweite Herausforderung betrifft ihn als Fußball-Lehrer. Die Offensivspieler sind von Huntelaar abgesehen flexibel einsetzbar - was gut, aber eben auch schlecht sein kann, weil es so viele Varianten gibt. Van Marwijk muss je nach Gegner, Ausgangslage und Tagesform immer abwägen, welche der unzähligen Möglichkeiten die beste sein könnte.

SPOX: Ist Ihr Ex-Trainer van Marwijk, mit dem Sie 2002 mit Rotterdam den UEFA-Cup gewannen, der richtige Mann?

Bosvelt: Seit damals hat sich van Marwijk auch als Führungskraft weiterentwickelt. Daher traue ich ihm das zu, zumal er mit Phillip Cocu und Frank de Boer zwei Co-Trainer an seiner Seite weiß, die noch sehr wichtig für ihn werden können. Auf solch erfolgreiche Ex-Stars hören die Spieler im Zweifel eher, wenn Klärungsbedarf besteht.

SPOX: Wie wichtig ist Bayerns Mark van Bommel?

Bosvelt: Zusammen mit Nigel de Jong kann er sich im defensiven Mittelfeld zum Motor des ganzen Teams entwickeln. Die beiden passen mit ihrem physischen Spielstil gut zusammen - wobei man sehen muss, wie frisch van Bommel nach der kräftezehrenden Saison ist. Im Champions-League-Finale wirkte er bereits etwas müde. Zur Not steht jedoch auch Amsterdams Demy de Zeeuw bereit, der ein starkes Jahr gespielt und für Ajax wichtige Tore erzielt hat.

SPOX: Eine weitere Alternative heißt Ibrahim Afellay, der angeblich kurz vor einem Wechsel nach Hamburg steht. Als Ablöse sind neun Millionen Euro im Gespräch. Ist er das wert?

Bosvelt: Neun Millionen Euro klingen wirklich sehr viel. Afellay hatte eine ordentliche, aber keine außergewöhnlich gute Saison für Eindhoven. Mich hat überrascht, dass er bei PSV mittlerweile im defensiven Mittelfeld spielt. Der Schachzug wurde zwar von einigen gefeiert - aber er hat einen derart ausgeprägten Riecher für Tore, dass er wie früher weiter vorne spielen sollte. Als Nummer zehn hat er viel mehr Potenzial.

SPOX: Anders als im Sturm und im Mittelfeld fehlt der Abwehr der Niederlande die Qualität. Stimmen Sie zu?

Bosvelt: Man muss es differenzieren. In der Innenverteidigung verfügen wir mit Joris Mathijsen und Johnny Heitinga - vorsichtig formuliert - nicht unbedingt über das beste Duo bei der WM. Bei den Außenverteidigern mache ich mir jedoch weniger Sorgen.

SPOX: Wirklich? Linksverteidiger Giovanni van Bronckhorst ist 35 Jahre alt und sein Vertreter Edson Braafheid hat in München und Glasgow ein furchtbares Jahr erlebt.

Bosvelt: Giovanni mag 35 sein, aber solche erfahrenen Spieler braucht die Mannschaft. Gegen Lionel Messi bekommt er sicherlich Schwierigkeiten - aber wer bekommt die nicht? Und Braafheid ist nicht so schlecht, wie die meisten Deutschen denken. Der Schritt zu den Bayern war vielleicht zu groß, wenn jemand jedoch so eine Chance bekommt, muss er sie dennoch ergreifen. Er bringt ausreichend Qualitäten mit, um zumindest als Backup in Frage zu kommen.

SPOX: Und rechts hinten? Khalid Boulahrouz war in Stuttgart nur Reservist und Konkurrent Gregory van der Wiel sorgte mehr mit seinem Twitter-Skandal für Schlagzeilen, als er ein Foto von sich bei einem Rap-Konzert online stellte, obwohl er verletzt eine Länderspiel-Reise abgesagt hatte.

Bosvelt: So etwas kann jungen Spielern passieren. Manchmal wird das Internet nach wie vor unterschätzt, aber van der Wiel hat aus dem Fehler gelernt. Davon abgesehen spielte er jedoch eine gute Saison und sollte die Nummer eins rechts hinten sein. Mit Boulahrouz habe ich ebenfalls keine Probleme. Er ist vielseitig, kann auch innen verteidigen und bringt eine gute Einstellung mit.

SPOX: Und was ist mit der Torhüter-Position? Seit Edwin van der Sars Rücktritt gilt sie als größter Schwachpunkt.

Bosvelt: Ach, die Diskussion um Maarten Stekelenburg ist eigentlich eine Scheindiskussion. Einige Journalisten wollten van der Sar wieder haben und machten so ein Thema daraus, wodurch massig Gerüchte aufkamen, die Stekelenburg ein bisschen verunsichert haben. Aber seit van der Sar klargestellt hat, dass er nicht zurückkommt, ist Ruhe eingekehrt - und Stekelenburg spielt wieder mit mehr Selbstvertrauen. Ich bin mir sicher, dass er genug Talent mitbringt, um die Erwartungen zu erfüllen. Bei der WM wird er zeigen, welch guter Torwart in ihm steckt.

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