Das Schaffen des Architekten Archibald Leitch: Er baute Englands Fußball ein Zuhause

Archibald Leitch entwarf unter anderem die immer noch erhaltene Haupttribüne des Craven Cottage
© spox

Anfang des 20. Jahrhunderts entwarf und baute der Architekt Archibald Leitch in Großbritannien fast 30 Stadien, unter anderem das Old Trafford, die Anfield Road und die White Hart Lane - obwohl er zuvor eine tödliche Katastrophe zu verantworten hatte. Leitch ist der bedeutendste Stadion-Architekt aller Zeiten. Das Porträt eines Vergessenen.

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Millionen Menschen passierten bereits seine engen Drehkreuze, um durch die Backstein-Fassaden zu kommen, saßen auf den Sitzschalen, die er einst montieren ließ, und manche, die währenddessen wütend wurden, rissen sie aus den Verankerungen und warfen sie aufs Feld.

Millionen Menschen lehnten früher, als es auf der Insel noch Stehplätze gab, an seinen Wellenbrechern. Wochenende für Wochenende. An der Anfield Road, der White Hart Lane, der Stamford Bridge oder im Old Trafford, in all den berühmten Stadien Großbritanniens.

Die zu Bühnen wurden, auf denen taktische Revolutionen vollführt wurden und zu Amphitheatern, in denen Fußball-Schlachten ausgefochten wurden. Für viele Fans waren sie zweite Wohnzimmer, Sehnsuchtsorte oder sind es immer noch, aber wer sie einst baute, bevor sie zu modernen Fußball-Arenen ummodelliert wurden, das weiß keiner.

"Forgotten man", sagt sein Biograph Simon Inglis im Gespräch mit SPOX über Archibald Leitch, der all diese Stadien einst entwarf. Archibald Leitch ist ein vergessener Mann. Auch Inglis wusste nichts von Leitch, als er 1962 mit sieben Jahren erstmals auf dem alten Trinity Road Stand des Villa Park von Aston Villa saß. Die Sicht, die Architektur, das ganze Ambiente hätte ihn aber so begeistert, dass er sich gefragt hat: "Wer hat diese Tribüne entworfen?"

Heimat für 16 von 22 Erstliga-Vereinen

Bald wusste Inglis, dass dieser Mann Archibald Leitch heißt und der Name hat ihn nie losgelassen. Zehn Jahre lang ist Inglis später durch Großbritannien gereist. Archive von Städten und Vereinen hat er durchwühlt und es setzte sich ein Bild zusammen: Inglis war dem Mann auf den Spuren, der die traditionelle britische Stadion-Architektur prägte wie niemand sonst. Mittlerweile nennt er Leitch liebevoll, fast vertraut "Archie", wenn er über ihn spricht.

An der Errichtung oder dem Umbau von annähernd 30 Stadien war Leitch beteiligt und das hat laut Inglis "außer Archie kein anderer Architekt geschafft, nicht einmal im Ansatz". In den 1920er Jahren spielten mal 16 von 22 englischen Erstliga-Vereinen in Stadien der Marke Leitch.

Und nun? Was ist geblieben? "Im Boardroom von Sunderlands Roker Park hing mal ein Bild von Archie", erzählt Inglis, "aber das Stadion wurde ja 1997 abgerissen." An der Anfield Road ist eine Bar nach Leitch benannt und ansonsten fand Inglis an keinem Stadion Verweise zu dem Mann, der sie einst gebaut hatte. Wobei: "Am South Stand des Ibrox Stadiums der Glasgow Rangers ist eine Plakette zu seinen Ehren angebracht."

Das Ibrox-Desaster

Das Ibrox. Es markierte einst den Anfang von Leitchs Karriere und beinahe auch deren Ende. Leitch wurde in Glasgow geboren und machte sich Ende des 19. Jahrhunderts in Schottland einen Namen als Architekt von Fabriken. Sein Lieblingsklub waren immer schon die Rangers und deren Stadion war damals mit 25.000 Plätzen nur halb so groß wie das des Rivalen Celtic. "Archie ging also zur Geschäftsstelle und meinte, er baue ihnen ein neues, großes Stadion", erzählt Inglis, "sie haben zugestimmt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verlangte Archie dafür nicht einmal Geld."

Dieser Auftrag sollte für Leitch der "stepping stone", das Sprungbrett, für weitere Aufträge in dieser Branche werden, doch er endete im Desaster. 1902 wurde das Ibrox mit dem Spiel aller Spiele eröffnet: Schottland gegen England. Etwa 80.000 Zuschauer - die genaue Zahl weiß keiner mehr - waren im Stadion und Leitch selbst natürlich auch. Es wurde für ihn aber statt eines stolzen Tages ein tragischer.

Eine Tribüne kollabierte unter dem Druck der Zuschauermassen, 26 Menschen starben. Aufgrund der damaligen Gesetzeslage konnte Leitch dafür als Architekt nicht belangt werden, stattdessen bat er die Rangers um eine zweite Chance. Und bekam sie. "Archie ist nicht weggelaufen, sondern hat sich zurückgezogen und neue Pläne ausgearbeitet", sagt Inglis. "Er hat einen Prozess durchlaufen, der dazu geführt hat, dass er so ein erfolgreicher Architekt wurde."

Funktional, schnell, billig

Bis zu seinem Tod 1939 entwarf und errichtete Leitch mit seiner Firma annähernd 30 Stadien. Das Haupteinkommen des Betriebs stammte aber auch in dieser Zeit nicht aus dem Bau von Stadien, sondern dem von Fabriken. Von außen betrachtet lag dabei jedoch ohnehin kaum ein Unterschied, die Fassaden von Leitchs Stadien erinnerten an Fabrikgebäude.

Nicht architektonisch anspruchsvoll, sondern funktional waren seine Bauwerke. "Archies Erfolgsrezept war, dass er durch seine Erfahrungen mit Wirtschafts-Betrieben genau wusste, was die Klubs wollten", erklärt Inglis. Die Stadien sollten billig sein, so viele Menschen wie möglich auf so wenig Platz wie möglich unterbringen und vor allem schnell errichtet sein.

Heutzutage dauert ein großer Stadionbau in seiner Gänze meist etwa sieben Jahre, als Leitch einst Arsenals Highbury Stadium für 60.000 Zuschauer errichtete, vergingen zwischen Auftragsgebung und Eröffnung zwölf Monate. Für Leitch war es nichts als Routine. "Er hat seine Stadien 1910 genauso gebaut wie 1930", sagt Inglis.

Er scherzt, dass die Klage vieler Fans, wonach heutzutage alle neuen Stadien gleich aussehen würden, auch zu Leitchs Zeiten gegolten habe, und meint das irgendwie auch etwas ernst.

Giebel, Balustraden und patentierte Wellenbrecher

Leitchs Stadien hatten einen hohen Wiedererkennungswert und haben ihn immer noch, sofern sie noch nicht abgerissen oder modernisiert wurden. Vereinzelt gibt es über Großbritannien verteilt Relikte seiner Arbeit. Die Fassade des Ibrox, die an ein Fabrik-Gebäude erinnert. Die Haupttribüne des Craven Cottage, dem malerischen Stadion des FC Fulham, mit seinem dreieckigen Giebel samt Vereinsnamen und Wappen.

Der Giebel war eines von Leitchs liebsten Stilelementen, sagt Inglis, genau wie die "criss-crossed balcony decorations". Im Goodison Park von Everton sind solche mit gekreuzten Metall-Elementen verzierten Balustraden noch erhalten. Doch die Erinnerungen werden weniger, Tribünen und Stadien von Leitch nach und nach abgerissen und durch neue ersetzt.

In diesem Sommer verschwinden mit dem Umbau der Haupttribüne des Tynecastle Stadiums der Hearts of Midlothian aus Edinburgh und dem Neubau von Tottenhams White Hart Lane erneut zwei Werke von Leitch. Etliche seiner Stadien wurden schon komplett abgerissen oder umgebaut, etwa das Old Trafford. Das Stadion von Manchester United war 1910 das erste Englands, das in sich geschlossen geplant und gebaut wurde, nicht nur stets erweitert. "Das war damals revolutionär", sagt Inglis.

Revolutionär waren auch Leitchs Stehplatz-Tribünen. "Bevor Archie sich der Sache annahm, waren das meist lediglich Erdhügel", sagt Inglis. Leitch ließ bei seinen Bauten den Untergrund betonieren und entwarf eiserne Wellenbrecher. "Darauf hatte er ein Patent, das später zum Standard in allen englischen Stadien wurde", sagt Inglis.

Hundertjährige Holzsitze als Nachruf

Natürlich auch im Villa Park, wo Inglis einst siebenjährig auf dem Trinity Road Stand saß und einfach nur beeindruckt war. Heute kann er das nicht mehr: Die Tribüne wurde 2000 abgerissen, vergeblich hatte Inglis zuvor für ihren Erhalt gekämpft. Der Haupttribüne des Craven Cottage wird dieses Schicksal nicht widerfahren, sie ist "Leitchs Meisterwerk", sagt Inglis, und mittlerweile denkmalgeschützt. "Die Holzsitze dort sind knapp hundert Jahre alt", erklärt er. Gewissermaßen sind sie der Nachruf auf Leitch, den er nie bekommen hat.

Als Leitch, der dem beliebtesten Sport seines Landes ein Zuhause gebaut hat, gestorben ist, hat das nämlich niemanden interessiert. In den Tageszeitungen gab es keine Würdigungen und auch in der Fachpresse nicht, weil es in Architekten-Kreisen damals verpönt war, sich dem Arbeitersport Fußball zu widmen.

Sogar Leitchs Nachkommen wussten nicht wirklich Bescheid, ehe Inglis sie aufklärte. "Ich traf mal seine beiden Urenkel", erinnert er sich, "und die hatten keine Ahnung davon, wie viele Stadion Leitch gebaut hat oder wie wichtig er eigentlich war."

Und er war immerhin der wichtigste Stadion-Architekt aller Zeiten.

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