Acht Jahre bis zum Bus
Erfolgstrainer Segrt trat Ende 2016 zurück. Er hatte den Lieblingsspieler des Fußball-Präsidenten aus dem Kader für ein Freundschaftsspiel gestrichen. Während man den Coach vor der Abreise unter falschen Vorwänden in seinem Büro aufhielt, schmuggelte der Verband den Spieler in den Mannschaftsbus und schickte ihn auf die Reise. Segrt betreute seine Löwen nie wieder.
In diesem Bus saß auch Milad Salem. Der heute 29-Jährige hatte seine erste Einladung zum Nationalteam bereits 2008 bekommen, die "etwas unseriöse" Anfrage lehnte er ab. In den kommenden Jahren wollte er für Afghanistan spielen, es kamen ein Meniskusschaden, ein Kreuzbandriss und Pflichten mit den Klubs in die Quere. Acht Jahre vergingen, ehe er 2016 in eben jenem Bus Platz nahm.
Salem spielt jetzt für ein Land, das zerstört ist, das er als Fußballer nicht einmal betreten darf. "Ich bin mit zwei Jahren nach Deutschland gekommen", erzählt er, "und habe das Land wegen des Bürgerkriegs seitdem leider nicht mehr besuchen können."
Beim Rückzug der internationalen Kampftruppen um 2014 sollen die Taliban wieder so kampfstark gewesen sein wie bei ihrem Sturz vor 16 Jahren, berichtet die Süddeutsche Zeitung. Beinahe die Hälfte der Landesfläche und jeder zehnte Bewohner wird von den Islamisten kontrolliert, so viele zivile Opfer wie 2016 gab es noch nie am Hindukusch. Im vermeintlich sichersten Teil des Landes, dem Diplomatenviertel der Hauptstadt, reißt Ende Mai eine Bombe einen metertiefen Krater in die Straße. 150 Menschen sterben, 450 werden verletzt. "Es gibt dort keine Sicherheit", beteuert Amiri. "Keine Sicherheit für irgendeinen Menschen."
"Alle 200 Meter steht ein Panzer"
Amiri war ein einziges Mal in seinem Vaterland. "Damals war mir sehr, sehr mulmig", sagt er. "Ich muss ehrlich sagen, dass ich mich definitiv nicht trauen würde, nochmal nach Afghanistan zu reisen. Alle 200 Meter steht ein Panzer, man weiß nicht, ob jeden Moment etwas passiert."
Auch Amin, der das Land seiner Eltern nur aus Erzählungen kannte, bis er es als Nationalspieler das erste Mal betrat, berichtet von einem "bescheidenen" Eindruck: "Ich hatte mir mehr erhofft, zum Beispiel von der Infrastruktur. Es sind seit etlichen Jahren ausländische Mächte im Land, viel aufgebaut wurde aber nicht, das hat mich überrascht."
"Vor allem", sagt Salem, "merkt man, wie gut man es in Deutschland hat. Es gab auch Mitspieler, die in Afghanistan selbst gespielt haben, bei denen hat man gemerkt: Die Woche, in der sie mit uns unterwegs sind, geht es ihnen gut. Danach kommen sie aber wieder in eine Welt mit vielen Problemen zurück". In Deutschland, sagt er, "gibt es im Vergleich dazu einfach keine Probleme. Das muss man ganz klar sagen".
"Zubayr Amiri 7 the Afghanistan Cristiano Ronaldo !"
Für die Menschen in Afghanistan kommen Salem und die anderen aus einer Parallelwelt. Die Menschen beten ihre Helden an, egal, woher sie den Weg auf sich nehmen, um mit der schwarz-rot-grünen Flagge auf der Brust Fußball zu spielen. Bis zu seinem Abschied vom FSV Frankfurt war Salem als Drittligaspieler der höchstspielende Kicker im Nationalteam. "Das hört sich super komisch an", gibt er zu, "auch für mich".
Auf YouTube gibt es ein Video, "Zubayr Amiri 7 the Afghanistan Cristiano Ronaldo !", ein pixeliger Zusammenschnitt von Amiri im Nationaltrikot. "Es ist eine Ehre, auch wenn es natürlich sehr gewagt ist", sagt der und lacht. "Aber wenn ich den Leuten dadurch ein Lächeln aufs Gesicht zaubern und ihr Ronaldo sein kann, nehme ich das natürlich herzlich in meine Hand und gebe weiter mein Bestes."
Im Hier und Jetzt könnte es sportlich aber besser laufen für den afghanischen Ronaldo und seine Mannen. Erstmals will sich das Land für die Asienmeisterschaft 2019 qualifizieren, helfen soll dabei der neue Trainer und Weltenbummler Otto Pfister. Aktuell belegen die Löwen von Khorasan in der Qualifikationsgruppe hinter Jordanien, Kambodscha und Vietnam den letzten Platz, bei vier ausstehenden Spielen ist die Lage aber nicht aussichtlos.
Im Land selbst beginnt bald die Endrunde der Afghan Premier League, die 2012 als eine der skurrilsten Spielklassen der Welt ins Leben gerufen wurde. Mittels Reality-Show und SMS-Voting wurden aus 10.000 Bewerbern Spieler ausgewählt und auf acht Teams verteilt. Die "Adler vom Hindukusch", "Sturm Harirod" oder die "Habichte von Spin Ghar" treten seitdem für die verschiedenen Regionen des Landes gegeneinander an.
Die Meisterschaftsrunde im Sommer dauert allerdings nur ein paar Wochen, reichlich kurz für die fußballverrückten Afghanen. Die Spiele finden in Kabul statt, ein Spielbetrieb im kompletten Land wird noch lange Jahre eine Utopie bleiben. Die Spieler verdienen während der knapp zwei Monate 90 Dollar. Ein Durchschnittsgehalt.
Warum sie alle wiederkommen
"Die Leute", sagt ein nachdenklicher Amin, "haben dort so wenig Perspektiven, so wenig, auf was sie sich freuen können." Auch deshalb kommen Spieler wie Hassan Amin, Zubayr Amiri und Milad Salem zurück. Trotz fehlender Länderspielpausen in Regional- und Oberligen, trotz der deshalb schwierigen Situation mit den Vereinen, trotz Flügen jenseits der zwölf Stunden. Jedes Mal.
Amin sagt, er werde oft gefragt. Nach Perspektiven als Nationalspieler, ob das jetzt ein Sprungbrett sei für ihn. "Wir sind keine Topadresse im Weltfußball", sagt er dann. "Wir spielen für diese Nationalmannschaft, weil wir den Leuten etwas zurückgeben und Freude schenken wollen." Kurz: "Wir tun das für die Leute in Afghanistan, deren Leben in keiner Weise ein Zuckerschlecken ist, um sie wenigstens diesen einen Tag glücklich zu machen."
Auch Salem betont: "In Afghanistan bis du als Fußballer Nationalheld. Da gab es Jungs in meinem Alter, die hatten Tränen in den Augen, als wir ihnen nur die Hand geschüttelt haben." 90 Minuten Fußballspielen, für ein Land und seine Leute, damit diese einmal nicht an Angst, Krieg und Bomben denken müssen. "Diese 90 Minuten, die wir für die Leute Fußball spielen", sagt Salem dann noch, "können ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern."