Zu 120 Prozent bereit sei Borussia Dortmund, hat Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke am Mittwoch vor dem Abflug nach Liverpool gesagt. Im Norden Englands angekommen, saß wenig später ein gut gelaunter Thomas Tuchel auf dem Podium im Bauch des altehrwürdigen Stadions der Reds und sprach zur Presse.
Der BVB-Trainer bilanzierte noch einmal das Hinspiel, das seiner Mannschaft ein 1:1 im Signal Iduna Park bescherte, und wurde inhaltlich etwas konkreter als in den Tagen zuvor.
Gehemmt habe seine Truppe vergangenen Donnerstag gespielt, die besonderen Umstände durch die emotionale Rückkehr von Ex-Coach Jürgen Klopp habe seinem Verein eine schwierige Ausgangslage für diese Partie verschafft.
"Ich glaube, dass das Rückspiel eine komplett neue Herangehensweise ermöglicht, die den Fokus auf eine ganz natürliche Weise auf den Sport lenken lässt", sagte Tuchel und glaubte, "dass die Spieler komplett in dieses Erlebnis Anfield eintauchen können."
Watzke und Tuchel hatten Recht
Watzke und Tuchel hatten Recht, wenn man sich den Beginn dieses letztlich legendären Rückspiels vergegenwärtigt. Dortmund war bereit, Dortmund war fokussiert und schlug mit hoher Effizienz früh doppelt zu. Der Weg ins Halbfinale war geebnet, für Liverpool wurde er schlagartig sehr lang.
Allerdings verhalf dem BVB die schnelle 2:0-Führung nicht, die Kontrolle über das Spiel zu erlangen und einen angeschlagenen Gegner über hohe Ballbesitzanteile weiter zu demoralisieren.
Liverpool hatte noch vor der Pause genügend Gelegenheiten, um selbst zu treffen. Das war bereits in Dortmund so, doch diesmal scheiterten die Reds zunächst weniger am damals glänzenden Schlussmann Roman Weidenfeller, als vielmehr am eigenen Unvermögen vor dem Kasten der Borussia.
Endlich habe man einmal gespürt wie es ist, wenn man gegen ein solches Pressing-System spielt, hatte Sven Bender nach dem Hinspiel gesagt. Er und viele seiner Teamkollegen waren unter Klopp Jahre lang selbst Bestandteil dieser intensiven Herangehensweise. Spätestens nach dem schnellen Liverpooler Anschlusstor zum 1:2 wurde jedoch immer klarer, wie sehr die Dortmunder unter den Begleitumständen dieses Fußballs, den sie kürzlich noch selbst spielten, leiden.
Es wird wild
Gegen Klopp zu spielen heißt: Es wird wild, hektisch und somit permanent mental anstrengend. Dies ist genau der Ansatz, der es laut Klopp ermöglicht, einen nominell stärkeren Gegner auf das Niveau des eigenen Teams herunter zu ziehen.
Der BVB war diesem psychischen Dauer-Stress letztlich in beiden Partien nicht gewachsen. Zumal die einzigartige, aber die Dortmunder Spieler belastende Atmosphäre in Anfield noch oben drauf kam.
Unmittelbar vor dem Abschlusstraining am Mittwochabend meinte Tuchel auf der Pressekonferenz noch, sein Team solle gleich "spüren und riechen, wie sich Platz und Stadion anfühlen". Das, was die Dortmunder Nasen im menschenleeren Rund dann aber aufschnappten, hatte wenig bis gar nichts damit zu tun, welche Wucht ein vollbesetztes Anfield Stadium erzeugen kann.
Origi mit der Wende
Durch das Tor von Divock Origi erlitt der BVB, um im Bild zu bleiben, den Verlust des eigenen Riechorgans. Die Gäste verloren zusehends die Klarheit in ihrem Passspiel, die defensive Stabilität ging mit jeder erfolgreichen Aktion der Liverpooler ein weiteres Stück verloren - das vermeintlich beruhigende 3:1 durch Marco Reus erwies sich letztlich als fataler Trugschluss.
"Wir haben mit dem 3:1 gedacht, dass das Ding durch ist", sagte ein enttäuschter Kapitän Mats Hummels nach der Partie. Viel schlimmer aus Dortmunder Sicht jedoch: "Nach dem 2:3 haben wir Schiss bekommen."
Den Nasen der Reds schien dagegen der Duft der Sensation nie verloren gegangen zu sein. "Nach dem 1:2 konnte jeder sehen, spüren, riechen, dass hier etwas passiert", sagte Klopp. "Wir haben nie aufgegeben. Und man lernt wieder aus diesem Spiel, dass man nie aufgeben darf. Man muss immer leidenschaftlich sein, immer daran glauben."
Dortmunder Kontrollverlust
Die Empfindungen auf Platz und Bank gingen ab dieser Spielphase also vollkommen konträr: die Dortmunder verloren den Boden unter den Füßen, Liverpool verband das eingegangene Risiko mit dem Glauben, doch noch eine magische Europapokal-Nacht herbei zu führen.
"Wir müssen fair zugeben, dass wir nach dem 3:1 nicht mehr damit klar kamen, mit wie viel Risiko Liverpool gespielt hat. Das Vertrauen in unsere Verhaltensweisen war vor allem unter Stress und Druck nicht mehr so hoch. Und so ist der schlimmste Fall eingetreten", sagte ein unter diesen Umständen gedanklich erstaunlich klarer Tuchel.
Es lässt sich nun auch an den Ergebnissen ein Negativtrend beim BVB konstatieren, der erstmals unter Tuchel seit drei Pflichtspielen ohne Sieg bleibt. Neun Gegentore stehen nach vier Spielen im April zu Buche, vier davon alleine in einer Halbzeit in Liverpool.
"Wir konnten nicht wie Champions gewinnen. Jetzt müssen wir uns wie Champions verhalten und Liverpool beglückwünschen. Wir hatten es in der Hand und haben es uns wegnehmen lassen. Dem müssen wir uns jetzt stellen. Mitleid brauchen wir nicht. Das ist unsere Verantwortung, gemeinschaftlich", zog Tuchel ein erstes Fazit.
Das Erlebnis Anfield
Der bereits angesprochene körperliche wie mentale Grenzbereich dürfte nach dem Erlebnis Anfield nun so gut wie erreicht sein. Durch die erste Niederlage im Jahr 2016 hat die Borussia direkt einen ganzen Wettbewerb verspielt, die Nachwehen werden alle Beteiligten wohl noch lange mit sich herumtragen. "Die Enttäuschung sitzt sehr tief. Ich schätze aber, dass das noch ein bisschen tiefer geht", sagte Watzke.
Deshalb bleibt auch der Blick in die unmittelbare Zukunft diffus. Die Meisterschaft wird an den FC Bayern gehen, die Europa League ist dahin, bleibt noch das DFB-Pokal-Halbfinale am kommenden Mittwoch bei Hertha BSC.
Tuchel dürfte am Sonntag im Heimspiel gegen den Hamburger SV wieder die Rotationsmaschine anwerfen, damit die im Olympiastadion auflaufende Elf den höchstmöglichen Grad an (geistiger) Frische aufweist.
Im Pokal unter Druck
Was sich jedoch jetzt schon sagen lässt: der Druck in dieser Partie wird enorm sein. Zwar würde ein mögliches Aus gegen die Berliner die starke erste Saison unter Tuchel nicht gänzlich konterkarieren. Doch an dieser letzten Titelchance hängt jetzt die finale Beurteilung der Spielzeit - durch die eigenen Spieler, wie auch von den Medien.
"Das Interessante wird sein, wie wir gemeinschaftlich damit umgehen, wie viel Energie es uns kostet und ob wir es schaffen, die Enttäuschung bis allerspätestens nächsten Mittwoch in Berlin in Trotz und positive Energie umzuwandeln. Das ist auch ein Wesenszug des Sports. Es gibt kein Spiel ohne Niederlage und ohne Verlierer. Das sind Lektionen, die dazugehören", sagte Tuchel.
Es lässt sich nicht erahnen, wie sich das Last-Minute-Aus auf die Mannschaft auswirken und sie damit umgehen wird. Die Borussia hat für ihre Entwicklung in dieser Saison einen Meilenstein, wie es Tuchel am Mittwoch nannte, verpasst. Es ist aber in Berlin weiterhin möglich - bei einem Einzug ins Pokalfinale gleich doppelt -, ihn doch noch zu erreichen.
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