11. Mai 2013. Estadio do Dragao. Zwischen Verfolger Porto und Tabellenführer Benfica läuft bereits die Nachspielzeit. Die Gäste lagen zwischenzeitlich in Führung und steuerten innerlich bereits auf die Meisterschaft zu. Ein Eigentor von Maxi Pereira hatte den Konkurrenten aber wieder ins Spiel gebracht. Nun also die Nachspielzeit - und da passiert es. Kelvin trifft zum 2:1 für Porto, Jorge Jesus sinkt zu Boden. Das Leiden einer Saison, versinnbildlicht in einem einzigen Moment.
Die Spielzeit 2012/13 ging als eine der bittersten in die Geschichte des stolzen Traditionsklubs aus Lissabon ein. Porto überholte durch den Last-Minute-Sieg am vorletzten Spieltag der Liga Zon Sagres auf den letzten Metern den phasenweise souverän führenden Spitzenreiter und gab den Titel nicht mehr her. Danach ging bei Benfica nichts mehr. Das Europa-League-Finale gegen Chelsea ging 1:2 verloren, das Pokalfinale gegen Guimaraes ebenso. Tränen statt Triple.
Benfica hält an Jesus fest - mit Erfolg
Jorge Fernando Pinheiro de Jesus, kurz Jorge Jesus, erlebte in seinem vierten Jahr als Trainer der Adler die bittersten Tage seiner Karriere. Der 59-Jährige, 2009 aus Braga gekommen, stand plötzlich mit leeren Händen da - und im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Doch der Verein sprach ihm das Vertrauen aus. Am 4. Juni 2013 verlängerte Jesus seinen Vertrag in der Hauptstadt um zwei weitere Jahre. Und Jesus lieferte. Getreu seinem Namen feierte Benfica in dieser Saison eine triumphale Auferstehung.
Die Meisterschaft ist bereits sicher, auch den Ligapokal hat Benfica gewonnen. Durch den Halbfinalsieg über Porto steht die Jesus-Elf zudem erneut im Pokalfinale. Und der Triumph in der Vorschlussrunde gegen Juventus hat die Portugiesen wieder ins Endspiel um die Europa League gespült. Nach der Saison mit dem geplatzten Triple-Traum ist nun sogar das Quadruple möglich.
Besiegt Benfica den Guttmann-Fluch?
"In fünf Jahren haben wir zwei Europapokalendspiele und ein Halbfinale erreicht. Das kann uns keiner mehr nehmen. Wir sind absolut verdient ins Finale eingezogen und haben uns unser Glück erarbeitet", so Jesus. Im Jahr des Todes von Vereinsikone Eusebio steht der Klub vor einem der größten Erfolge in seiner 110-jährigen Geschichte. Doch noch immer lastet dieser Fluch auf Benfica.
Seit 52 Jahren hat Lissabon keinen internationalen Titel mehr gewonnen. Der am 4. Januar 71-jährig verstorbene Eusebio hatte seine Elf im Mai 1962 mit zwei Toren zum 5:3-Erfolg über Real Madrid zum Triumph im Europapokal der Landesmeister geführt - der bis heute letzte Titel auf internationaler Ebene. Das Benfica-Trauma auf europäischem Parkett wird mit einem Namen in Verbindung gebracht: Bela Guttmann.
Der Trainer feierte mit Benfica zwischen 1959 und 1962 drei Meisterschaften und zwei Landesmeisterpokale, doch nach dem Endspiel gegen Real war Schluss. Benficas Präsident Antonio Vital verweigerte Guttmann eine Gehaltserhöhung. Noch vor dem abschließenden Pokalfinale verließ der Ungar die Portugiesen im Unfrieden und prägte den Ausspruch, der bis heute auf dem Klub lastet: "Nicht in hundert Jahren wird Benfica noch einmal den Europacup gewinnen!"
Sieben verlorene Endspiele
Er sollte bis heute Recht behalten. Im Jahr nach Guttmanns Abgang scheiterte Benfica im Endspiel am AC Milan, 1965 ging das Finale gegen Inter Mailand verloren. 1968 zogen die Portugiesen gegen Manchester United den Kürzeren. 1981 starb Guttmann - doch der Fluch lebte weiter. 1983 scheiterte Benfica im UEFA-Cup an Anderlecht, 1988 im Landesmeister-Finale an Eindhoven, 1990 erneut an Milan.
Im siebten Anlauf war im vergangenen Jahr gegen die Blues Schluss. In der dritten Minute der Nachspielzeit bestätigte Branislav Ivanovic einmal mehr den Guttmann-Fluch - doch der soll gegen den FC Sevilla am Mittwoch ein Ende finden. Nach exakt 19.005 Tagen. "Wir arbeiten dafür jeden Tag. Wir wollen die Europa League diesmal gewinnen", sagt Jesus.
"Das ist Teil der Geschichte dieses Vereins"
"Benfica war in neun Endspielen und hat zwei davon gewonnen. Das ist Teil der Geschichte dieses Vereins", erklärt der Coach, der die Adler endlich aus dem Tal der Tränen führen möchte: "Jetzt kommt das zehnte. Für solche Momente lebt man als Spieler und Trainer."
Seine Mannschaft geht als Favorit ins Finale gegen die Andalusier. Nach dem "Abstieg" als Tabellendritter der Champions-League-Gruppenphase räumten die Portugiesen PAOK Saloniki, Tottenham Hotspur, AZ Alkmaar und Juventus Turin aus dem Weg. Dabei blieb die Jesus-Elf fünfmal ohne Gegentor. Vorne macht derzeit Lima den Unterschied. Der Angreifer trifft in der Europa League im Schnitt alle 72 Minuten.
Jesus fordert Emotionen
Doch Jesus beschwichtigt - wissend um das niederschmetternde Vorjahr. "Ich erwarte einen starken Gegner. Es ist ein Finale. Ich weiß, dass Sevilla immer einhundert Prozent gibt. Sie werden sehr motiviert sein, sie haben eine Geschichte in diesem Wettbewerb", so der Benfica-Coach über den UEFA-Pokal-Sieger von 2006 und 2007.
"Lasst es uns angehen - individuell, kollektiv und emotional", so Jesus. Letzteres dürfte gewiss sein, angesichts der bewegten Geschichte dieses Vereins und dieses Trainers. Benfica will es packen. Gegen den Fluch. Für Eusebio. Für Jesus. Denkbar, dass der im Lissaboner Vorort Amadora geborene Trainer wieder auf die Knie fällt. Wenn es nach ihm und Benfica geht, diesmal aus grenzenloser Freude.
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