Ob Jerome Boateng die Telefonnummer von Peter Bosz hat? Falls nicht, sollte er sie sich besorgen und vielleicht ein kleines Dankeschön an den Trainer von Bayer 04 Leverkusen senden. Denn der legte eine Schwachstelle in der Defensive des FC Bayern München offen, die unter Interimstrainer Hansi Flick schon als behoben galt. Die Anfälligkeit bei Kontern.
Dass sie der Vergangenheit angehörte, wurde angenommen, weil die Bayern in den vier Spielen zuvor keinen einzigen Gegentreffer kassiert hatte. Dreimal mit dem Innenverteidiger-Duo Javi Martinez und David Alaba, einmal mit Boateng und Martinez im Zentrum. Allerdings nur, weil Alaba aufgrund der Geburt seines Kindes nicht zum Champions-League-Spiel nach Belgrad reiste.
Boateng war unter Flick also ein Stück weit außen vor - wie er es schon so oft auch unter Niko Kovac war. Doch dann gastierte Leverkusen in der Allianz Arena und die Werkself kam mit einem Plan, der Flicks Konzept des hohen Verteidigens empfindlich störte.
FC Bayern: Flicks Anti-Bosz-Plan mit Boateng geht auf
"Benjamin Pavard geht immer nach vorne, will Druck machen. Und dann kommt er gegen Martinez und das wollten wir ausnutzen", erklärte Peter Bosz bei Sport1 seinen taktischen Kniff. "Er", das war Leon Bailey, der am Ende mit zwei Toren der Matchwinner gegen den Rekordmeister war. Zu schnell war er für Martinez, dem in dieser Saison mit einer Spitzengeschwindigkeit von 31,25 km/h langsamsten Innenverteidiger der Bayern. Eine Kategorie, die Boateng wiederum anführt. Besser gesagt: die einzige relevante Kategorie, in der der ehemalige Nationalspieler bei den Innenverteidigern des FCB Spitze ist.
Und als hätte Flick seine Lehren daraus gezogen, wie Bosz und eine ansonsten völlig unterlegene Werkself drei Punkte aus München mitnahmen, baute er seine Mannschaft im Spitzenspiel gegen Tabellenführer Borussia Mönnchengladbach um. Er setzte Pavard und Martinez auf die Bank, "degradierte" Joshua Kimmich auf die rechte Verteidigerseite und ließ Boateng quasi als Anti-Bosz-Plan beginnen - zum ersten Mal in der Bundesliga seit seinem Platzverweis gegen Eintracht Frankfurt im letzten Kovac-Spiel (1:5).
Der ehemalige Bayern-Trainer hatte noch im Oktober - als der 31-Jährige mal wieder Stammspieler und nicht Reservist war - angekündigt, dass Boateng beweisen werde, "dass er ein qualitativ sehr guter Spieler ist". Gegen den Tabellenführer tat Boateng genau das.
Aufmerksam, kopfballstark, mit zwei wichtigen Klärungsaktionen: Boateng machte seine Sache gegen die so hochgelobte Offensive der Gladbacher, die in der ersten Halbzeit nur einen Torschuss zustande brachte, mehr als ordentlich und war mit Alphonso Davies zweikampfstärkster (64,3 Prozent) und passsicherster Münchner (95,3 Prozent). Beim Gladbacher Ausgleich durch Ramy Bensebaini konnte zumindest Boateng, der Alassane Plea folgte, kein Vorwurf gemacht werden.
Martinez patzt erneut und eröffnet Boateng Chancen
Dann aber streikte Boatengs Körper nach 67 Minuten. Eine "neurogene Muskelverhärtung in der linken Wade", hieß es nach dem Spiel vonseiten des Rekordmeisters. Ein Spiel, das die Bayern am Ende nicht nur, aber auch wegen der Verletzung von Boateng verloren. Denn ihn ersetzte der sprintschwache Martinez, dem in der Nachspielzeit das Tempo von Boateng und damit die berühmt berüchtigten Zentimeter fehlten. Anstelle des Balles traf Martinez' Grätsche Marcus Thuram. Vom "klarsten Elfmeter, den ich je gesehen habe", sprach Joshua Kimmich anschließend. Manuel Neuer erhöhte um ein "dummes Foul".
Ein Foul, das dem FC Bayern nicht nur einen Punktverlust bescherte, sondern auch die Hierarchie der nach den Verletzungen von Niklas Süle und Lucas Hernandez noch verbliebenen Innenverteidiger wieder empfindlich ändern könnte. Auch wenn Flick noch ein paar Tage vor der Pleite in Gladbach vom Basken geschwärmt hatte. "Du kannst dich als Trainer auf ihn verlassen. Er geht für einen durchs Feuer", hatte der Bayern-Trainer auf Zeit gesagt.
Zwar ist Boateng wie auch Martinez nicht fehlerfrei und sowohl bei der Zweikampf- und Passquote, als auch im Kopfballspiel statistisch gesehen schwächer als der Spanier und Pavard. Aber er ist auch nicht mehr der "Fremdkörper", als den ihn Uli Hoeneß noch im Mai bezeichnet und ihm zu einem Abschied vom FC Bayern geraten hatte.
Im Gegenteil: Er sei "ein absolut toller Spieler, einer der besten Innenverteidiger", betonte Flick, zu dessen risikobehaftetem Vorwärtsverteidigen - unter Flick stand der letzte Defensiv-Spieler im Schnitt 43,6 Meter von der eigenen Torlinie entfernt - er darüber hinaus mit seinen Geschwindigkeitsvorteilen auch besser passt.
FC Bayern: Statistiken der Innenverteidiger in der Bundesliga
Spieler | Minuten | Zweikampfquote | gew. Kopfballduelle | Passquote | Balleroberungen | Geschwindigkeit |
Niklas Süle | 642 | 75,61 Prozent | 16 von 19 | 91,71 Prozent | 39 | 33.18 km/h |
Lucas Hernandez | 482 | 67,31 Prozent | 9 von 10 | 88,05 Prozent | 19 | 33.10 km/h |
Jerome Boateng | 496 | 55,56 Prozent | 11 von 21 | 88,82 Prozent | 32 | 33.74 km/h |
Javi Martinez | 487 | 65,38 Prozent | 16 von 22 | 91,99 Prozent | 39 | 31.25 km/h |
Benjamin Pavard | 1170 | 59,78 Prozent | 35 von 52 | 90,05 Prozent | 72 | 32.53 km/h |
Jerome Boateng beim FC Bayern: Der dritte Sommer kommt
Ein Innenverteidiger, der schon in den zwei vergangenen Sommertransferperioden kurz vor einem Wechsel ins Ausland stand. 2018 legte Kovac wegen der Unverzichtbarkeit Boatengs sein Veto gegen einen Wechsel zu Paris Saint-Germain ein und setzte ihn dann in der Rückrunde hinter Süle und Mats Hummels auf die Bank. 2019 war das kolportierte Interesse von Top-Klubs wie Juventus und Inter Mailand erkaltet. Seriöse Angebote? Fehlanzeige. Zu oft verletzt sei er, hieß es.
Während der FCB da noch bereit war, Boateng ziehen zu lassen, wie Karl-Heinz Rummenigge bestätigte ("Wenn er den Klub verlassen möchte, dann muss er uns das mitteilen"), wähnte er sich nach dem Verkauf von Hummels und den schweren Verletzungen von Süle und Hernandez glücklich, ihn doch noch behalten zu haben.
Unter Kovac war Boateng auch vor den Ausfällen von Süle und Hernandez durchaus gefragt. Von Mitte September bis Anfang November stand er in sechs von sieben Spielen in der Bundesliga von Beginn an auf dem Feld. Bleibt Flick sich seiner Spielweise treu, könnte sich das Szenario wiederholen und Boateng wieder regelmäßig spielen.
Auch wenn Hernandez nach der Winterpause zurückkehren wird. Dafür wird Alaba früher oder später auf die linke Seite zurückrotieren. Vielleicht schon im Spiel gegen Tottenham am Mittwoch in der Champions League (ab 21 Uhr im LIVETICKER), in dem Flick aufgrund der Irrelevanz des Ausgangs Experimente wagen und weiter gegen einen prominenten Gegner an seiner Stammverteidigung feilen kann.
Dass Boateng hingegen seinen bis 2021 laufenden Vertrag tatsächlich erfüllen wird, dahinter stehen deutlich mehr Fragezeichen. Spielt er und tut er das so wie in Gladbach, dürfte der ein oder andere Klub aufmerksam werden und möglicherweise das seriöse Angebot abgeben, das im Sommer noch gefehlt hatte. So kurvig Boatengs vergangene eineinhalb Jahre beim FC Bayern auch waren. Er ist auch situationsbedingt nach wie vor gefragt - und vielleicht bald auch wieder gejagt.