Eigentlich ist der Kopfball völlig missraten. Kein Druck dahinter, unplatziert, an sich ungefährlich. Der Torhüter taucht ab und bringt die Hände hinter den Ball - klare Sache. Eigentlich. Doch Rui Patricio lässt die Kugel irgendwie über den Handschuh rutschten. Mit Schrittgeschwindigkeit holpert der Ball ins rechte Eck und beschert Chinedu Obasi einen prächtigen Cocktail aus Glückshormonen.
Im Rausch des Torjubels sprintet der Nigerianer auf kürzestem Wege zur Trainerbank und hüpft Roberto Di Matteo freudig in die Arme. "Ich freue mich, dass Di Matteo mir eine Chance gegeben hat. Der Einsatz war sicherlich eine Belohnung für die vergangenen Trainingseinheiten", erklärte Obasi seine Jubelfeier mit dem Coach.
Und der bestätigte dessen Einschätzung: "Er hat sich in die Startelf hineintrainiert", so Di Matteo. Obasi, der unter Keller oft verletzt und selten Stammkraft war, obwohl dieser "schon immer ein Fan von Obasi" gewesen sei, hat unter Di Matteo eine neue Chance gewittert und wurde prompt belohnt.
Plötzlich auf der Bank
Der Nigerianer erfährt nun, wie ein Trainerwechsel einzelne Spieler beflügeln kann. Doch der Schuss kann genauso nach hinten losgehen, wie derzeit vor allem ein anderer Königsblauer zu spüren bekommt: Max Meyer.
Das so vielversprechende Talent fand sich unter dem neuen Coach plötzlich auf der Bank wieder, die Zehner-Rolle wurde Kevin-Prince Boateng überlassen. "Dass Kevin heute da gespielt hat, heißt nicht, dass er immer auf dieser Position spielen wird. Ich wollte erfahrene Spieler haben", beschwichtigte Di Matteo.
Doch auch eine Woche später saß Meyer gegen Leverkusen 89 Minuten draußen, obwohl sein Team lange einem Rückstand hinterher rannte und man seine Kreativität bestimmt hätte gebrauchen können.
Sanfte Erschütterung der heilen Welt
Im Anschluss gab sich der 19-Jährige konsterniert. "Ich habe keine Ahnung, warum ich nicht eher reingekommen bin. Der Trainer habe mit ihm "bisher nicht gesprochen", berichtete Meyer.
Erstmals in seiner Karriere hatte der 19-Jährige Gegenwind gespürt.
Schon früh wurde Meyer zum Supertalent erklärt, mit 17 erhielt er einen Profivertrag. Meyer hatte sämtliche Jugendnationalmannschaften durchlaufen und stand im Mai sogar im erweiterten WM-Kader für Brasilien.
Unter Keller mauserte sich Meyer als 18-Jähriger zum Stammspieler, bestritt vergangene Saison insgesamt 41 Pflichtspiele für Königsblau. Plötzlich, im Zuge des Trainerwechsels, wird die heile Welt des Youngsters erstmals sanft erschüttert.
"...wenn er die richtige Einstellung hat"
Di Matteo wollte Meyer öffentlich nicht kritisieren, doch seine diplomatischen Äußerungen geben durchaus Aufschluss über die Gründe für Meyers zwischenzeitliche Nichtberücksichtigung. "Auf seiner Position muss er Akzente setzen und manchmal auch spielentscheidend sein. Er hat gezeigt, dass er Talent hat für diese Rolle. Ich glaube, dass er sich entwickelt, wenn er will und die richtige Einstellung hat."
Zudem stellte Schalkes Coach klar, dass die Ersatzspieler ihre Einsatzzeiten bekommen würden, "wenn sie sich aufdrängen". Klingt ganz danach, als hätte das Meyer anfangs eben nicht ausreichend getan.
Di Matteo war in Gelsenkirchen von Beginn an bemüht, Signale zu setzen. So lag zum Beispiel am ersten Trainingstag bereits der neue Strafenkatalog in der Kabine aus. "Für alle gut sichtbar", wie Kapitän Benedikt Höwedes erklärt. Darin gehe es "um die üblichen Dinge wie Handy in der Kabine und Ähnliches."
Klares Signal von Di Matteo
Der Unterschied ist jedoch: Die Höhe der fälligen Strafen hat der Trainer selbst festgelegt. Unter Keller hatte noch der Mannschaftsrat darüber entschieden, was gemäß einem Bericht der "Welt" ein gewisses laissez faire zur Folge gehabt haben soll.
Auch die angeblich mangelnde Autorität von Ex-Coach Keller wurde in der Öffentlichkeit oft thematisiert. Er strahle zu wenig Führungskraft aus, hieß es. Di Matteo hingegen stellte von Beginn an klar: "Es gibt nur einen Boss".
Das Signal ist angekommen. Höwedes schwärmt im "Kicker" bereits vom Auftreten des 44-Jährigen: "Di Matteo besitzt eine tolle Ausstrahlung, in der Kabine wie in der Öffentlichkeit. Wenn er in den Raum kommt, wird jedem sofort klar: "Er ist der Chef", gab er zu Protokoll.
Kampf der königsblauen Wohlfühloase
Ein Chef, unter dem es eine königsblaue Wohlfühloase nicht mehr geben soll - auch nicht für Supertalente wie Meyer. Beim 1:0-Sieg gegen Augsburg durfte er zwar wieder ran, doch sein Startelf-Auftritt war in erster Linie der Verletzung von Boateng geschuldet.
Im vierten Gruppenspiel gegen Sporting (20.30 Uhr im LIVE-TICKER) dürfte der Ghanaer wieder beginnen, sollte er rechtzeitig fit werden. "Kevin kann der Mannschaft viel geben", sagte Di Matteo hoffnungsvoll auf der Pressekonferenz.
Allerdings wolle er noch "das Abschlusstraining abwarten". Vielleicht drängt sich dabei ja mittlerweile auch wieder ein Youngster namens Max Meyer auf...
Max Meyer im Steckbrief