Es ist eines der schönsten Tore dieser Premier-League-Saison. 'Arsenal Football' in Reinkultur. Schnell, direkt, in weniger als zehn Sekunden geht es diagonal aus der eigenen Hälfte über den Platz, der Abschluss ist superb. Initiator und Vollstrecker ist der junge Mann mit der Rückennummer 16.
Im Mittelkreis postiert leitet er einen scharf gespielten Pass auf den in seinem Rücken über halblinks nach vorn preschenden Jack Wilshere weiter. Über Wilshere und Giroud kommt der Ball schließlich zurück zum Absender und der trifft aus elf Metern konzentriert und kontrolliert rechts oben ins Eck. Genau dahin, wohin der Ball auch sollte.
Eine halbe Stunde später steht Arsenals neunter Pflichtspielsieg in Folge fest. 2:1 haben die Gunners in Swansea gewonnen. Im Mittelpunkt der Nachlese steht Arsenals Nr. 16, Aaron Ramsey.
In "Saturday Night Football" bei "Sky Sports" soll er Antworten auf die immer gleichen Fragen finden: "Warum sind Sie so gut, Mr. Ramsey? Was ist passiert zwischen letzter und dieser Saison?"
Alles kaputt
Die Suche nach plausiblen Antworten führt unweigerlich zurück zum 27. Februar 2010. Arsenal spielt im Britannia Stadium in Stoke. Das Spiel ist gut eine Stunde alt. Ryan Shawcross legt sich den Ball in der Nähe der Mittellinie etwas zu weit vor, Ramsey spitzelt ihm das Leder weg, doch Shawcross zieht durch, trifft Ramseys rechten Unterschenkel mit voller Wucht.
Arsenals Pressemitteilung am nächsten Tag bestätigt nur, was jeder Augenzeuge und TV-Zuseher ohnehin wusste: Beinbruch. Schien- und Wadenbein sind durch, Spekulationen über den Heilungsverlauf erübrigen sich. Die Frage ist eher, ob er je wieder so würde spielen können wie vor dem Unfall.
Ramsey erholt sich jedoch schneller als erwartet und darf die Krücken schon vier Wochen später in die Ecke stellen. Im Oktober kehrt Ramsey ins Training zurück, Ende November läuft er erstmals wieder für Arsenals Reserve auf.
13 Monate Warten aufs Comeback
Doch es geht nicht weiter wie im Bilderbuch. Der rasante Aufstieg des walisischen Wunderkinds, für das Arsenal im Sommer 2008 knapp fünf Millionen Pfund an Cardiff City überwiesen hat, gerät ins Stocken.
Ramsey geht auf Leihbasis zu Nottingham Forest und später in seine Heimatstadt Cardiff, um sich Spielpraxis zu holen. 13 Monate nach seiner fürchterlichen Verletzung schnuppert er erstmals wieder Premier-League-Luft im Gunners-Trikot.
Am 1. Mai 2011 schießt er Arsenal zu einem 1:0-Heimsieg gegen Manchester United. Dafür habe sich das Warten gelohnt, sagt er anschließend, doch die Saison ist für ihn und den Klub eine zum Vergessen.
Ab in den Mittelpunkt
Es geht in kleinen Etappen weiter. Ramsey pendelt zwischen Ersatzbank und Startelf, zwischen zentralem Mittelfeld und den Flügeln. Einmal muss er gar als Außenverteidiger herhalten. Seine Leistungen sind durchwachsen, die Ungeduld der Fans wächst. Nicht aber die von Manager Arsene Wenger.
Im Winter 2012 verlängert Arsenal die Verträge mit Alex Oxlade-Chamberlain, Carl Jenkinson, Kieran Gibbs, Jack Wilshere und eben Aaron Ramsey. Ein klarer Vertrauensbeweis und das Startsignal für Ramsey in seine zweite Karriere bei den Gunners.
Ende Januar 2013 fängt Wenger an, Ramsey dauerhaft im zentralen Mittelfeld einzusetzen. Der inzwischen 22-Jährige, in seiner fünften Saison bei den Gunners, wird der Aufgabe gerecht und mehr und mehr zur Schaltzentrale.
Es findet keine Leistungsexplosion statt, aber Ramsey fühlt sich zusehends wohler und beginnt seine Stärken auszuspielen.
Zweimal Tabellenführer
Arsenal gewinnt zwölf der verbleibenden 16 Saisonspiele beginnend mit dem 23. Januar und einem 5:1 gegen West Ham und verliert nur eins. Der Kraftakt bedeutet die Teilnahme an den Champions-League-Playoffs, und Ramsey hat sich im zentralen Mittelfeld festgespielt.
Dort ist er längst nicht mehr wegzudenken. Die laufende Saison befindet sich in ihrem dritten Monat, Arsenal ist Tabellenführer der Premier League und der starken Champions-League-Gruppe mit Dortmund, Neapel und Marseille.
Und Ramsey ist nicht nur auf der Taktiktafel die zentrale Figur im System von Wenger, sondern Arsenals bester Mann, vielleicht derzeit der beste Spieler der englischen Liga.
Der perfekte Wenger-Schüler
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Fünf Tore bei nur zehn Torschüssen und drei Assists in der Liga, drei von fünf Treffern in den CL-Playoffs gegen Fenerbahce, ein Tor und eine Vorlage bei den Siegen in Marseille und gegen Neapel.
Doch zeichnet ihn viel mehr aus als seine neu gewonnene Torgefährlichkeit. Ramsey ist Herz und Seele bei Arsenal und das von Box zu Box. Er hat die meisten Ballkontakte, glänzt mit hervorragender Passquote gerade im letzten Spieldrittel und bestreitet die meisten Zweikämpfe. Und er ist physisch so stark wie nie zuvor. "Er schüttelt seine Gegenspieler jetzt ab und läuft ihnen mit Leichtigkeit davon", schwärmt Wenger. "Das ist ein tolles Gefühl für einen Mittelfeldspieler, wenn er das kann."
Ramsey verkörpert die Werte, die Wenger seit 17 Jahren bei Arsenal liebt, lebt und lehrt, schreibt der "Guardian": Er ist technisch herausragend, intelligent und lernwillig, immer auf der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten, gleichzeitig aber auch ein unnachgiebiger Kämpfer.
Dass Ramsey dazu außerhalb des Platzes den Ball schön flach hält, schätzt Wenger ebenso.
Grafik: Aaron Ramsey "Box to Box" (Swansea - Arsenal 1:2, 28.9.2013)
"Oder gibt man auf..."
"Man darf nicht vergessen, dass seine Karriere durch diese schwere Verletzung unterbrochen wurde", sagt Wenger. "Im Leben eines Fußballers ist das eine wichtige Prüfung. Schafft man es zu den Basics zurückzukehren und noch härter zu arbeiten oder tut man sich selbst leid und gibt auf."
Ramsey hat nicht aufgegeben, sondern sich Schritt für Schritt das Selbstvertrauen erarbeitet, das es ihm ermöglicht, sein fußballerisches Potenzial zur Entfaltung zu bringen. Dass Ramsey jetzt so gut spielt, wie er spielt, mag die breite Öffentlichkeit verwundern, Kenner des britischen Fußballs werden sagen: Es war lediglich eine Frage der Zeit.
"Er spielt den Fußball, den wir ihm alle zugetraut haben", sagt etwa Wales' Nationaltrainer Chris Coleman über seinen Führungsspieler.
Und Teamkollege Craig Bellamy meint: "Es gibt niemanden in der Szene, der solche Leistungen nicht von ihm erwartet hätte. Er kann es einfach."
Auf einer Stufe mit Fabregas
Aaron Ramsey konnte es schon immer. Besser als alle anderen und früher als alle anderen.
Mit 16 debütierte er für die walisische U 21 und sein damaliger Trainer stellte ihn auf eine Stufe mit Cesc Fabregas. Immer noch 16 war er, als er für Cardiff City in der zweiten englischen Liga auflief. Mit 17 debütierte er in der A-Nationalmannschaft seines Landes und mit 17 wechselte er auch zum großen Arsenal FC. Mit gerade 20 Jahren und drei Monaten führte er Wales erstmals als Kapitän aufs Feld.
Der verhehrende Tritt von Ryan Shawcross damals in Stoke bedeutete die erste Zäsur in einer Karriere auf der Überholspur. Allem Anschein nach hat sie Ramsey nicht nachhaltig geschadet.
Leise, fast demütig
"Warum also sind Sie so gut, Mr. Ramsey?" Die Frage der Kollegen von "Sky Sports" steht noch im Raum.
Ramsey spricht leise, den Blick auf den unteren Bildrand gerichtet, fast demütig, über das Selbstvertrauen, das er sich hart erarbeitet hat und davon, dass er nicht der Typ ist, der sich entmutigen lässt und aufgibt. Er sagt auch, dass er endlich auf seiner Lieblingsposition im Zentrum angekommen sei, wo er seine Stärken am besten einbringen kann.
Er tut das in aller Bescheidenheit.
Er hätte auch sagen können: "Weil ich es kann."
Aaron Ramsey im Steckbrief