Vor anderthalb Jahren wurde Julian Nagelsmann als neuer Trainer des FC Bayern München vorgestellt - zur Freude der allermeisten Fußball-Experten und der Fans des FCB.
Ein junger Taktik-Freak mit cooler Frisur und trendigen Jacken übernahm nun den größten Fußballverein Deutschlands - ist nur rund 20 Monate später allerdings schon wieder weg.
Am Donnerstagabend machte die Meldung die Runde, die SPOX und GOAL bestätigen können: Bayern entlässt Nagelsmann! Nachfolger des 35-Jährigen soll Thomas Tuchel werden, der beste der derzeit auf dem Markt verfügbaren Trainer.
Den ehemaligen Chelsea- und PSG-Coach hatten die Bayern bekanntlich schon lange im Auge. Und nachdem Nagelsmann in Ungnade gefallen und Tuchel ja verfügbar war, verschwendeten die FCB-Bosse keine Zeit, um die beste Entscheidung zu treffen, die sie hätten treffen können.
Dabei geht es weniger darum, ob und in welchen Punkten Nagelsmann gescheitert ist. Viel wichtiger ist, wie viel Potenzial in der Installation Tuchels steckt.
Klar, Nagelsmann ist ein herausragender Trainer und das wird er auch noch andernorts unter Beweis stellen. Er war schon erfolgreich, bevor er nach München kam. Und er verlässt den Klub immerhin mit einem deutschen Meistertitel in der Tasche.
Aber mit Tuchel haben die Bayern jetzt einen ausgereiften Coach, der bereits Erfolge auf allerhöchstem Niveau nachweisen kann - und der dem FCB allen voran in der Champions League schon in dieser Saison zu Silberware verhelfen könnte.
Tuchels Standing vermittelt Respekt
Nagelsmanns Entlassung kam überstürzt daher. Noch dazu zu diesem Zeitpunkt, genau am Beginn einer Länderspielpause.
Obwohl die Lage in der Allianz Arena schon seit einiger Zeit angespannt war, hatte man nicht mit seiner Entlassung gerechnet. Tatsächlich befand sich Nagelsmann selbst im Skiurlaub, als die Nachricht allmählich die Runde machte. Er erfuhr von ihr zuerst über die Medien, was natürlich ein schlechtes Zeichen für den Stil des FC Bayern ist.
Allerdings gab es deutliche Warnsignale. Nagelsmann hatte den Respekt einiger Führungsspieler verloren. Es bestand der Eindruck, dass er seine Mannschaft nach einer Niederlage zu schnell kritisierte und nicht bereit war, seinen Teil der Schuld auf sich zu nehmen.
Sein Verhältnis zum Vorstand war zudem zerrüttet. Und auch mit dem wichtigsten Spieler des Vereins, Manuel Neuer, hatte er sich überworfen.
Der deutsche Nationalkeeper hat einige turbulente Monate hinter sich: Erst brach er sich bei einem Ski-Unfall den Unterschenkel, dann wurde sein guter Freund und langjähriger Torwart-Trainer Toni Tapalovic entlassen. Im Anschluss daran gab er ein brisantes Interview in der Süddeutschen Zeitung und bei The Athletic, mit dem er den Zorn von Nagelsmann und dem Vorstand auf sich zog.
Der Trainer hatte auch Mühe, den Aufruhr zu dämpfen, den die unregelmäßige Spielzeit für Joao Cancelo verursacht hatte. Der im Januar von Manchester City geholte Außenverteidiger wurde als wichtiger Neuzugang für eine Mannschaft gefeiert, die einen Mann für die defensiven Flügel brauchte. Doch der Portugiese wurde nur spärlich eingesetzt und hat sich bisher eher als Ablenkung außerhalb des Platzes denn als Vorteil auf dem Spielfeld erwiesen.
Zum Glück für die Bayern holen sie nun einen Spezialisten für die Begrenzung von Schäden. Tuchel hat in seiner Karriere schon so manches Drama in der Umkleidekabine erlebt. Und er hat diese bereits mit den größten Egos bei einigen der größten Klubs geteilt.
Er ist ein Trainer, der PSG mit Kylian Mbappé und Neymar betreut hat. Er hat sich mit den außergewöhnlichen Wünschen des Chelsea-Bosses auseinandergesetzt. Er hat sich sogar der wenig beneidenswerten Aufgabe gestellt, die Nachfolge von Jürgen Klopp in Dortmund anzutreten.
Das Engagement bei Bayern ist nun sicherlich kein leichter Job. Aber Tuchel wird wissen, wie er die verschiedenen Persönlichkeiten in Einklang bringen kann. Und er hat keine Angst vor Herausforderungen.
Tuchel hat taktische Überzeugung
Man wird vielleicht nie erfahren, was genau in den letzten Tagen und Wochen hinter den Kulissen des FC Bayern vor sich ging - sowohl in der Vorstandsetage als auch in der Kabine. Aber die Probleme auf dem Spielfeld waren für jedermann klar ersichtlich.
Die Bayern sind in der Bundesliga wahnsinnig inkonstant, von einem eindeutigen Sieg gegen den Titelrivalen Union Berlin bis hin zu einer 1:2-Niederlage gegen Bayer Leverkusen war zuletzt alles dabei.
Vor allem hat es den Bayern jüngst an taktischer Überzeugung gefehlt. Die Leistungen waren auch deshalb so inkonstant, weil Nagelsmann sich nie auf ein System festlegen konnte. Er hatte zwar Prinzipien, aber keine Kontinuität.
Eine Zeit lang versuchte er, das Zentrum des Spielfelds zu besetzen und vorwiegend über Robert Lewandowski zu spielen. Dann, als sich die Gegner darauf eingestellt hatten, wechselte er die Systeme. Seit dem Abgang des Polen hat Nagelsmann daraufhin noch mehr experimentiert, indem er seine Mannschaft in die Breite spielen ließ, was dazu führte, dass sie Probleme beim Kreieren von Torchancen hatte.
Tuchel wird im Gegensatz dazu an seiner taktischen Ausrichtung festhalten. Der Deutsche hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt und ist vom Gegenpressing-Idealismus seiner Dortmunder Zeit zu einem pragmatischeren 3-4-3 bei Chelsea übergegangen.
Egal, wo Tuchel trainiert, er hat immer ein klares System. Dazu passt, dass es laut Sky-Reporter Florian Plettenberg Tuchels Angebot eines klar strukturierten, begeisternden Projekts war, das die Bayern zu diesem überraschenden Trainerwechsel bewogen hat.
Und das ist auch verständlich, die Bayern befinden sich schließlich in einer prekären Phase der Saison. Sie liegen in der Bundesliga nur auf Platz zwei und müssen in drei Wochen im Viertelfinale der Champions League gegen Manchester City antreten - da bleibt wenig Zeit zum Grübeln.
Tuchel wird seine Vorstellungen haben und er wird sie umsetzen. Und genau das hat bekanntlich in der Vergangenheit schon zu herausragenden Ergebnissen geführt.
Tuchel: Peps schlimmster Albtraum?
Bayern-Trainer verfolgt stets der Fluch der immensen Erwartungen. Das bringt das Arbeiten in einem derart großen Klub eben von Natur aus mit sich.
Die Bayern müssen zwar nicht jedes Jahr die Champions League gewinnen, wie man es zum Beispiel bei PSG erwartet. Aber der FCB hat den Anspruch, in der Königsklasse zumindest immer weit zu kommen. Und in großen Spielen, wie etwa dem anstehenden Viertelfinale gegen Manchester City, will man möglichst wettbewerbsfähig sein.
Es ist also nur logisch, dass Bayern den Trainer holt, den City-Coach Pep Guardiola am meisten fürchtet. Der Spanier hat es auf seine Weise mit der ihm typischen Schmeichelei zugegeben.
"Er ist so kreativ", sagte Guardiola im Jahr 2022 über Tuchel. "Er ist einer der wenigen Trainer, von denen ich ständig lerne, um selbst ein besserer Trainer zu werden." Der frühere BVB-Coach sei "in allen Bereichen hervorragend. Ich mag ihn, seit er in Mainz war. Ich genieße es, seine Teams zu beobachten und die Art und Weise, wie er spielt und wie er vorgeht. Er macht den Weltfußball besser."
Tuchel konnte in seiner Zeit beim FC Chelsea einige bedeutende Erfolge gegen Guardiola verbuchen, indem er City dreimal in Folge besiegte - unter anderem im Finale der Champions League 2021.
Natürlich werden Trainer nicht nur für einzelne Spiele eingestellt, zumindest sollten sie das nicht. Aber es ist ein praktischer Zufall, dass Bayern Tuchel weniger als einen Monat vor dem größten europäischen Spiel der Saison gegen City holen kann.
Tuchel: Kurz- und langfristiger Erfolg
Die Bayern hätten Nagelsmann nicht unbedingt entlassen müssen - zumindest nicht mitten in der Saison.
Aber vielleicht kommt der Höhepunkt all dieser Spannungen für den deutschen Rekordmeister gerade zur rechten Zeit. Man kann jetzt den Mann holen, den man seit Jahren begehrt - und das zu einem entscheidenden Zeitpunkt in der Saison.
Dortmund, das in der Bundesliga derzeit einen Punkt vor den Bayern liegt, ist der nächste Gegner. Eine Niederlage würde die Meisterschaftsserie des FCB stark gefährden, ein Sieg hingegen die dringend erwünschte Kontrolle wiederherstellen.
Dennoch ist die gesamte Situation ziemlich untypisch für den FC Bayern. Es ist schon lange her, dass der Spitzname "FC Hollywood" rund um die Säbener Straße so wirklich präsent war. Seit Carlo Ancelotti im September 2017 haben sich die Bayern nicht mehr so schnell von einem Trainer getrennt - und das Aus des Italieners fühlte sich seinerzeit zudem sehr freundschaftlich an.
Damals hatte man noch keinen perfekten Ersatz und war gezwungen, mit Jupp Heynckes auf eine sichere Bank zu setzen. Diesmal ist das anders. Diesmal holen die Bayern mit Tuchel den bestmöglichen Trainer, den richtigen Mann zur richtigen Zeit.
Und das dürfte die kurz- und langfristige Zukunft der Bayern nur noch besser machen.